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Dunkle Tage

Dunkle Tage

Titel: Dunkle Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Kunz
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Sieger eines von ihnen angezettelten Krieges sie nicht mit Samthandschuhen anfassten, noch hatten sie ihre Gegner anders als mit Hochachtung behandelt. Das Schlimme an Fanatikern war, dass sie dauernd Dinge zitierten, die sie gar nicht begriffen.
    Hendrik merkte, wie der Groll in seinem Magen sich immer mehr zu einem kalten Klumpen verdichtete, und warf seinen Bleistift auf den Schreibtisch. Für heute hatte er die Nase voll.
    Er ging ins Bad und spritzte sich Wasser ins Gesicht, aber die Niedergeschlagenheit blieb. Warum tat er sich diese Quälerei eigentlich an, wo er doch die Identität Thors bereits aufgedeckt hatte? Vermutlich sein Perfektionismus. Wenn er einmal etwas anfing, führte er es auch zu Ende.
    Womit er bei dem Mord an Max Unger war. Die Untersuchung bewegte sich nicht vom Fleck, und das lag nicht nur daran, dass heute Sonntag war. Er musste etwas tun. Wenn er es ernst meinte, Antons Mutter zu helfen, durfte er sich nicht aufs Abstellgleis schieben lassen. Gleich morgen früh würde er seinen Bruder aufsuchen, um etwas über Frau Broschecks Aussagen zu erfahren. Und er musste Hauptmann Pabst sprechen. Unbedingt!
    Erst jetzt stellte Hendrik fest, wie spät es war. Er hatte weder das Verstreichen der Zeit noch seinen Hunger bemerkt. Erschöpft begab er sich in die Küche und stellte aus kärglichen Überresten eine Art Essen zusammen. Anschließend warf er sich einen Mantel über und ging nach draußen. Er brauchte dringend frische Luft, um den Mief des Ewiggestrigen loszuwerden.
    Es war kalt und ungemütlich auf der Straße. Hendrik zog den abgenutzten Mantel enger um seine Schultern und wollte die 52 zum Brandenburger Tor nehmen, musste aber feststellen, dass keine Straßenbahn mehr fuhr. Auch Hochbahn und Omnibusse hatten den Betrieb eingestellt. Anscheinend fing der proklamierte Generalstreik an zu greifen.
    Er beschloss, zu Fuß zu gehen, und ließ sich einfach vom Strom der Menge treiben. Überall standen Gruppen von Menschen beisammen und diskutierten erregt oder tauschten Neuigkeiten aus. Die „Regierung Kapp“ hatte offenbar ein Presseverbot erlassen, und die Leute hungerten nach Nachrichten.
    Die absurdesten Gerüchte machten die Runde. Die alte Regierung habe aufgegeben, sei erschossen, sei ins Ausland geflohen, hieß es. Kapp wolle zurücktreten, sei schon zurückgetreten, sei bald am Ende. Ludendorff werde die Macht übernehmen, General von Lüttwitz, General von Seeckt. Die Entente habe die „Regierung Kapp“ anerkannt. Die Kommunisten bereiteten die Räterepublik vor. An das Versammlungsverbot hielt sich selbstredend niemand.
    Straßenhändler priesen unverdrossen ihre Waren an, obwohl die Menschen ihnen weniger Beachtung schenkten als sonst. Ein Schuhmacher reparierte Schuhe. Ein graumelierter Herr führte Scheibenwischer aus Gummi vor, seit vergangenem Jahr die neueste Attraktion. Auch eine Krageneinlage, die angeblich eine längere Lebensdauer der Krawatten zur Folge hatte, wurde feilgeboten. Und selbstverständlich traf man überall auf Kriegsversehrte, die um ein Almosen bettelten. Das Leben hörte nicht auf, nur weil ein paar Größenwahnsinnige putschten.
    Ab und zu beteiligte sich Hendrik an Diskussionen und erfuhr dadurch, dass das Zeitungsverbot wieder aufgehoben worden war, inzwischen aber die Buchdrucker streikten. Außerdem fehlte der Strom. Nur dem Vorwärts war es wohl gelungen, noch eine kleine Auflage zu drucken.
    Vor den Filialen der Zeitungen drängten sich die Leute, um wenigsten die in den Schaufenstern angebrachten Aushänge zu lesen. Hendrik machte einen kurzen Abstecher in die Jerusalemer Straße. Auch vor dem Geschäftshaus Mosse, das immer noch mit Kugelspuren aus den Revolutionskämpfen vom vergangenen Jahr übersät war, befand sich eine Traube von Menschen, um die Aushänge des Berliner Tageblattes zu lesen. Diesen konnte Hendrik entnehmen, dass die alte Regierung sich bester Gesundheit erfreute, inzwischen von Dresden nach Stuttgart umgezogen war und keine Rede davon sein konnte, dass die Entente Beziehungen zur „Regierung Kapp“ aufgenommen hätte. Nebenbei erfuhr man aus den Aushängen auch das Ergebnis der Volksabstimmung in Südschleswig: Achtzig Prozent der Bevölkerung hatten zugunsten eines Verbleibs im Deutschen Reich gestimmt.
    Motorengebrumm ließ Hendrik nach oben blicken. Ein Flugzeug brauste über die Dächer der Stadt, aus seinem Leib quollen unzählige Blätter, die wie Herbstlaub herabsegelten und die Straßen bedeckten. Hendrik hob

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