Dunkle Tage
eines auf.
Der erste Tag der neuen Regierung , hieß es da großspurig. Es folgte das übliche Politikergewäsch, dem es irgendwie immer gelingt, hilfloses Wassertreten als erfolgreichen neuen Schwimmstil zu verkaufen.
Zufällig schnappte Hendrik die Bemerkung eines Passanten über die Kosten des putschistischen Abenteuers auf. Richtig, die Kosten! Mit welchen Geldern gedachte Kapp eigentlich seine Soldaten und die versprochenen Lohnerhöhungen und Sonderzulagen zu bezahlen? Wie viele Industrielle hatten wohl in die militärischen Eskapaden investiert?
Wie angewurzelt blieb Hendrik stehen. Natürlich! Max Unger hatte den Putsch unterstützt! Vielleicht wäre er in der „neuen Regierung“ Wirtschaftsminister geworden. Lag hier etwa das Motiv für den Mord? In unterschiedlichen Ansichten über das Vorgehen des Putsches? Hatte Max Unger womöglich gedroht, alles auffliegen zu lassen, wenn seine Wünsche nicht Berücksichtigung fanden?
Nein, das passte nicht. Der Putsch war ohnehin nicht gerade ein Muster an Geheimhaltung gewesen und mehr als dilettantisch vorbereitet. Außerdem hätte sich Max Unger im Falle eines Verrats selbst geschadet, immerhin steckte er bis zum Hals mit drin.
Von einer Gruppe Arbeiter erfuhr Hendrik, dass das für die südlichen Teile Berlins zuständige Wasserwerk lahmgelegt war, vermutlich infolge des Streiks im Elektrizitätswerk. Hoffentlich ging es Anton und seiner Familie gut! Es musste hart für den Jungen sein, dass seine Mutter gerade in diesen Stunden der Not im Gefängnis saß.
Planlos streifte Hendrik durch die Straßen. Erst als es dunkel wurde, dachte er daran, nach Hause zu gehen. Zu spät bemerkte er, dass die Straßenbeleuchtung fehlte. Auch die Laternen waren selbstverständlich vom Streik betroffen, ohne Gas und Strom kein Licht. Schnellen Schrittes eilte der Professor Richtung Schöneberg, solange er noch einigermaßen sehen konnte, aber vom Potsdamer Platz an kam er nur noch im Schneckentempo voran. Unbeholfen tastete er sich an Hauswänden entlang und schlug mehr als einmal hin, weil er über eine vorstehende Treppenstufe oder einen emporragenden Pflasterstein stolperte.
Er war nicht der Einzige, den die Situation überrascht hatte; immer wieder hörte er das Tappen von Schritten oder halblaut hervorgestoßene Flüche. Ab und zu kam ihm jemand mit einer Taschenlampe oder Blendlaterne entgegen, doch leider ging dieser Jemand nie in seine Richtung.
Als er wieder einmal ins Leere tastete, blieb er stehen. Wo genau befand er sich? Ganz in der Nähe seiner Wohnung, oder? Doch, sicher! Wenn ihn nicht alles täuschte, war dies bereits die Winterfeldtstraße. Am besten wechselte er die Straßenseite, dann drüben an den Häusern entlang bis zum Winterfeldtplatz, und dann … Allerdings, wenn er sich irrte, bestand die Gefahr, dass er sich verlief, und das war in dieser Finsternis nicht zu empfehlen. Verunsichert drehte er sich hin und her.
Aus einem Fenster weiter hinten fiel Kerzenlicht und beleuchtete ein spitzbärtiges Gesicht. Wer is’ eigentlich der Mann mit dem spitzen Bart? Die Dunkelheit hatte das Gesicht wieder verschluckt, aber das Klack-klack von Schuhen auf Straßenpflaster kam immer näher.
Einen Augenblick lang floss Eiswasser in Hendriks Adern. Dann rannte er mit ausgestreckten Armen, um nirgendwo anzustoßen, auf die gegenüberliegende Straßenseite. Er stolperte über den Bordstein, prallte gegen eine Hauswand und schürfte sich die Wange auf, aber er bemerkte es kaum. Seine Hände glitten über rauen Putz und bloßliegende Ziegel. Weiter, nur fort von seinem Verfolger! Unwillkürlich begann Hendrik zu hinken.
An der Straßenecke blieb er stehen und lauschte. Der Mann war jetzt so nahe, dass man sein Keuchen hören konnte. Er hatte offenbar bemerkt, dass sein Opfer im Begriff war zu entkommen, und fing ebenfalls an zu laufen. Mit Genugtuung vernahm Hendrik einen unterdrückten Aufschrei, als der Spitzel über denselben Bordstein stolperte. Los, den Vorteil nutzen! Bewegung!
Endlich, die Gleditschstraße! Der rettende Hauseingang konnte nicht mehr weit sein. Aber welcher war es? Bloß nicht den Kopf verlieren! Hendrik schloss die Augen, um mit seinen Händen zu sehen. Nummer 1 … Nummer 3–5 … Verflixt, war das hier das Schaufenster des Fotogeschäfts, oder gehörte es noch zur Drogerie Richter? Ah, da! Das musste die schadhafte Stelle in der Mauer von 7–9 sein! Gleich, gleich war es geschafft! Schnell, der Schlüsselbund! Bloß nicht fallen
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