Dunkle Tage
… bin aufgewacht, weil ich einen trockenen Hals hatte, und ging hinunter, um mir ein Glas Wasser zu holen. Dabei sah ich Hermann … er kam aus dem Seitengebäude.“
„Wann war das?“
„Ich weiß nicht … ich kann nicht lange geschlafen haben. Vielleicht gegen acht oder neun.“ Sie spielte nervös mit den Falten ihres Hauskleides. „Er … er pfiff und rieb sich vergnügt die Hände.“
„Vergnügt?“
„Ja. Als ob alle Probleme beseitigt wären.“ Sie schlug die Hände vor den Mund, als sie begriff, was sie gesagt hatte. „So habe ich das nicht gemeint! Du glaubst doch nicht, dass …“ Sie konnte den Satz nicht zu Ende sprechen.
Aber du glaubst es, dachte Diana. Laut fragte sie: „Warum war er so fröhlich?“
„Er hat es mir nicht gesagt. Ich … habe nicht gewagt zu fragen. Du weißt doch, wie er ist. Über Geschäfte redet er nicht mit mir.“
Diana tätschelte ihre Hand wie einem kleinen Kind. „Du solltest dich ausruhen, Tantchen! Es wird sich schon alles aufklären.“
„Ja!“, erwiderte Käte, doch ihren Augen sah man an, dass sie genau das mehr als alles andere fürchtete.
Als sie hinausging, bemerkte Diana zum ersten Mal, wie klein und gebrechlich sie war. Wie musste es sein, neben einem Menschen einzuschlafen, den man für einen Mörder hielt? Wie musste es sein, mit jemandem verheiratet zu sein, dem man nicht einmal so weit vertraute, dass man eine einfache Frage zu stellen wagte?
Von draußen erklang eine unkonzentrierte Interpretation von Liszts Liebestraum . Ihre Tante hatte sich ans Klavier gesetzt, um ihre Nerven zu beruhigen. Sie spielte immer den Liebestraum , wenn sie schwermütiger Stimmung war.
Urplötzlich überfiel Diana ein Zittern. Lag des Rätsels Lösung doch hier, vor ihren Augen, in ihrer eigenen Familie?
Da war zum einen Friedrich, der behauptete, die ganze Nacht im Bett gewesen zu sein, und der sich doch davongestohlen hatte, wie seine Schuhe bewiesen.
Und dann war da Hermann, der heimlich in das Arbeitszimmer seines Bruders gegangen und fröhlich und von Sorgen erlöst wieder herausgekommen war.
Behauptete ihre Tante.
16
Der Verstand ist der große Schlächter des Wirklichen. Der Jünger muss den Schlächter töten . Hendrik streckte angewidert die Zunge heraus, während er an den Rand der Textstelle Helena Petrowna Blavatsky schrieb.
Bis zum Nachmittag war es ihm gelungen, den größten Teil der Quellen für die Zitate ausfindig zu machen. Mittlerweile hatte er neben Nietzsche auch Machiavelli isoliert – natürlich Machiavelli. Es war zu erwarten gewesen, auf Texte aus Il Principe zu stoßen, Texte über die Vorteile von Grausamkeit beim Herrschen und darüber, dass ein kluger Regent nicht notwendigerweise sein Wort halten muss, sondern im Gegenteil ein Meister der Heuchelei sein soll. Argumente, die denjenigen wie Öl runtergehen mussten, die einen Eid auf die neue Verfassung geschworen hatten, um sie im selben Augenblick zu verraten. Der Zweck heiligt die Mittel.
Des Weiteren hatte er herausfinden können, dass eine antisemitische Zeitschrift namens Ostara der Ursprung der abstrusesten Textstellen war, in denen ständig von Arioheroikern und Edelrassigen gegenüber Tschandalen und Äfflingen die Rede war.
Die Zitate in den Briefen liefen querbeet durch den philosophischen Gemüsegarten und folgten keinerlei erkennbarer Systematik, wie zu erwarten bei Leuten, die lediglich die Literatur für ihre Zwecke plünderten und sich keine Gedanken darüber machten, vor welchem kulturellen Hintergrund und in welchem politischen Zusammenhang ein Werk entstanden war.
Brach Etzels Haus in Glut zusammen, / als er die Nibelungen zwang, / So soll Europa stehn in Flammen / bei der Germanen Untergang. Felix Dahn. Noch so ein Gelehrter, dem zu viel Pathos das Gehirn verkleisterte.
Klar, dass auch ein nationalistisch uminterpretiertes Nibelungenlied für Hetztiraden herhalten musste, unter völliger Missachtung der Tatsache, dass weder der Treue- noch der Ehr- oder Rachebegriff der Germanen etwas mit dem gemein hatte, was deutschtümelnde Kleingeister darunter verstanden! Vor allen Dingen unterschieden sich die Helden der Sage dadurch von jenen Politikern und Militärs, die sich so gern mit diesem Epos schmückten, dass sie bereit waren, mit ihrem Leben für die von ihnen getroffenen Entscheidungen geradezustehen, und ausdrücklich ihre eigene Schuld bejahten. Weder Gunter noch Hagen noch Siegfried wäre es je in den Sinn gekommen, darüber zu jammern, dass die
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