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Dunkle Tage

Dunkle Tage

Titel: Dunkle Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Kunz
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„Mit Ihnen reden wir nicht.“
    „So?“
    „Wenn es auf der Welt gerecht zuginge, wären Sie längst Ihres Amtes enthoben wie der Judenfreund Nicolai. Oder man hätte Ihnen das Maul gestopft.“
    „Lass ihn!“ Leanders Stimme klang erstaunlich fest.
    „Sie haben meinen Bruder ausgetrickst!“
    Leander ergriff ihn beim Arm. „Hör auf damit!“
    „Ihr Bruder hat sich entschlossen, sein Gewissen nicht länger zu ignorieren“, korrigierte Hendrik. „Sie dagegen haben ihn in Gefahr gebracht.“
    „Was wollen Sie damit sagen?“
    „Sie hatten ja nichts Eiligeres zu tun, als unser Gespräch Ihrem Major Pabst zu melden, der mir daraufhin einen Spitzel angehängt hat. Von mir hat der Major nichts erfahren, was er nicht bereits durch diesen Spitzel wusste.“ Er wandte sich Leander zu. „Seien Sie vorsichtig! Pabst hat Drohungen gegen Sie ausgestoßen. Verräter verfallen der Feme, hat er gesagt.“
    Leander wurde blass.
    „Er würde seinen eigenen Männern niemals etwas antun!“, sagte Ludwig. „Er weiß, dass mein Bruder ein treuer Verfechter unserer Sache ist.“
    „Ganz wie Sie meinen.“ Hendrik verließ die beiden Studenten ohne ein weiteres Wort, um sich nicht zu Äußerungen hinreißen zu lassen, die er später bereuen würde. Ludwig rief ihm Beleidigungen hinterher, während Leander ihn zu beruhigen suchte. Hendrik konnte die Brüder noch eine ganze Weile streiten hören.
    Immerhin hatte die Auseinandersetzung ihm einen willkommenen Adrenalinschub gegeben. Mit frischer Energie wälzte er den Fall Unger im Kopf. Ob Curt Broscheck die Tat gestanden hatte? Hendrik beschloss, seinem Bruder gleich morgen früh einen Besuch abzustatten und ihn nach Neuigkeiten auszuhorchen. Hoffentlich war der Arbeiter unschuldig, schon um seines Sohnes willen!
    Der Gedanke an Anton bedrückte ihn. Was könnte aus dem Jungen werden, wenn er die Möglichkeit hätte zu studieren! Aber das war natürlich lächerlich, allein die Immatrikulationsgebühr betrug achtzehn Mark, dazu kamen das Honorar für Privatvorlesungen, das Auditoriumgeld, die Bibliotheksgebühr, der Studentenfonds, die akademische Krankenkasse … Anton hatte ja nicht einmal das Geld, um eine höhere Schule zu besuchen! Es war nicht gerecht, dass ein so viel versprechendes Kind von jeder Möglichkeit zur Entfaltung ferngehalten wurde, während Raufbolde wie Ludwig Sebald alles nachgeworfen bekamen!
    Irgendwo fielen Schüsse. Zusammen mit der Dunkelheit übten die Geräusche eine beklemmende Wirkung auf Hendrik aus. Er fühlte sich in die Schützengräben vor Ypern zurückversetzt. Die Gräben, die teilweise mit Körperteilen gefallener Soldaten befestigt waren. Wenn man es wagte, über den Rand zu sehen, glotzten einen tote Augen an, die Augen von Leichen, die nicht beerdigt werden konnten, weil ein Feind, den man nie zu sehen bekam, wenige hundert Meter entfernt unter den gleichen Bedingungen dahinvegetierte und nur darauf wartete, dass sich jemand eine Blöße gab. Nichts bekam man zu sehen, nichts als Regen, Schlamm und Ratten. Um nicht durchzudrehen, hatte er angefangen, philosophische Schriften auswendig zu lernen, Platon, Aristoteles, Epikur. Die Worte waren ihm ebenso unwirklich vorgekommen wie die Situation, in der er sich befand.
    Dann, plötzlich, Soldaten, die aus dem Morgendunst tappten. Schwankend. Blind. Mit ausgestreckten Armen bewegten sie sich auf die Gräben zu. Manchmal fiel einer von ihnen um und ließ eine Lücke in der weit auseinandergezogenen Reihe, schlug noch eine Weile um sich und blieb verkrümmt liegen. Mit Verzögerung drang schließlich auch das Stöhnen und Röcheln herüber. Einige derjenigen, denen die Haut vom Gesicht fiel, krochen auf allen vieren, bettelnd, fluchend, wimmernd. Die ersten fielen in die Gräben.
    Hendrik hatte sich nicht rühren können. Und wenn eine Bombe direkt auf seinem Platz eingeschlagen wäre, er hatte nichts weiter tun können, als zuzusehen, wie die Gasvergifteten zu seinen Füßen verendeten. Gelbkreuz. Senfgas.
    Das waren die Dinge, die er Diana nicht erzählt hatte. Bilder, Gerüche, die ihn nicht losließen. Die ihn zweifeln ließen, dass es einen Sinn im Leben gab, dass Vernunft existierte, dass Verständigung zwischen Menschen möglich war. Die ihn zynisch werden ließen und dazu gebracht hatten, dass er nach seiner Genesung seine Vorlesungen nur noch mechanisch abhielt.
    Ist denn eine andere Welt möglich? Immer wieder lief es auf diese Frage hinaus. Würde es ihm gelingen, die Lähmung

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