Dunkle Tage
bisschen Systematik, um seine Gedanken zu sortieren. Hendrik holte ein Stück Papier und einen Bleistiftstummel aus der Manteltasche und kritzelte im Schein der Taschenlampe:
1. Familie Unger
a. Friedrich Unger in der Nacht draußen. Warum?
b. Hermann Unger in Max’ Arbeitszimmer. Vor Friedrichs Gespräch? Unklare Zeit!
– Motiv: alle, inkl. Käte (Hass, Geld).
2. Broschecks
a. Verschwundener Schuldschein.
b. Spuren vom Tatort an Curt Broschecks Schuhen.
c. Beide lügen hinsichtlich ihrer Rückkehr. Wer schützt wen und warum?
– Motiv: beide (Hass, Schuldschein).
3. Putschisten
a. Identifikation Pabsts durch Joseph (Pabst leugnet, Max Unger zu kennen).
b. Briefe aus dem Umkreis der Nationalen Vereinigung. Langjähriger konspirativer Kontakt. Vermutliche Beteiligung Max Ungers am Putsch (finanzielle Unterstützung).
c. Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg?
– Motive: unklar, aber denkbar (politisch motiviert, evt. Geld).
4. Mehrdeutige Spuren
a. Ein dem Tatmesser ähnliches falsches Messer mit dem richtigen Blut und Barbara Broschecks Fingerabdrücken. Mit ziemlicher Sicherheit vom Mörder als falsche Spur zugesandt.
b. Spuren hinter einem Gebüsch vor dem Fenster des Arbeitszimmers. Mögliche Schlussfolgerung: Der Mörder (?) hat Max Unger vorher beobachtet.
c. Terminkalender. Eintrag Thor, weist womöglich auf Pabst als späten Besucher hin. Warum Seite umgeblättert?
Hendrik las seine Notizen noch einmal durch und schüttelte den Kopf. Er wurde einfach nicht schlau daraus. Vielleicht sollte er es mit einer Aufstellung der zeitlichen Reihenfolge versuchen.
tagsüber
Max Unger findet Verschiedenes über seine Brüder heraus
???
Aufbruch Barbara Broscheck
6.30
Abendessen Ungers, anschl. Max Unger ins Arbeitszimmer
7.30
Gespräch Hermann Unger bei Max (laut eigener Aussage)
Curt Broscheck entdeckt Abwesenheit seiner Frau
8.00 – 10.00
geschätzte Todeszeit
8.00
Gespräch Friedrich Unger bei Max
Aufbruch Curt Broscheck mit Fahrrad
8.20
Barbara Broscheck bei Max Unger, wirft anschließend Messer weg
(laut eigener Aussage). Mörder beobachtet sie dabei?
8.30
Gespräch Thor (= Pabst) bei Max Unger (laut Terminkalender)
8.45 – 9.00
Curt Broscheck bei Max Unger (geschätzte Zeit)
9.45
Curt Broscheck zu Hause
10.30
Barbara Broscheck zu Hause
Hendrik studierte seine Notizen, fand aber keinen neuen Anhaltspunkt. Curt Broscheck hatte in jedem Fall Zeit genug gehabt, um zur Villenkolonie Grunewald hinauszuradeln, dort möglicherweise seine Frau zu beobachten und den Mord zu begehen. Nur: Woher hatte er die echte Tatwaffe? Schließlich konnte er nicht im Voraus wissen, dass seine Frau ein Messer zurücklassen würde.
Wer immer den Mord verübt hatte, konnte den konkreten Plan erst fassen, als er Barbara Broscheck dabei beobachtete, wie sie das Messer fortwarf. Was bedeutete, sofern die Arbeiterin unschuldig war und die Geschichte sich so abgespielt hatte, wie sie sagte, dass der Mörder gegen acht Uhr zwanzig am Tatort gewesen sein musste. Da sämtliche Zeitangaben nur Schätzwerte darstellten, waren allerdings Abweichungen nach oben und unten möglich.
Wie sah es mit den Alibis zur betreffenden Zeit aus? Schlecht. Die Broschecks waren nachweislich am Tatort gewesen. Die Brüder Unger hätten überall sein können. Käte Unger hatte angeblich geschlafen. Wo Pabst sich aufhielt, wusste der Teufel.
Seufzend faltete Hendrik den Zettel zusammen. Er steckte fest. Wenn doch nur Diana hier wäre! Ihren Enthusiasmus hätte er jetzt brauchen können! Er konnte es kaum abwarten, dass sie zu ihm zog. Und dabei war er nach wie vor sicher, dass er sie nicht liebte. Obwohl er ein zärtliches Gefühl für sie hatte. Obwohl er sie gern in den Arm nehmen würde.
Was war es nur, was einen dazu brachte, sich in jemanden zu verlieben? Diana war hübsch, klug, warmherzig – all das, was ihm an einer Frau gefiel. Und trotzdem war der Funke zwischen ihnen nicht erotischer Natur. Hendrik schüttelte den Kopf. Überflüssige Grübelei, nicht wahr? Freundschaft war schließlich eine Form von Liebe.
Er horchte auf. Geräusche näherten sich, Geflüster. Einige Sekunden später erschienen die Brüder Sebald am Kanalufer. Jemand hatte sie in die nächstbeste Uniform gesteckt; vermutlich unterstützten sie die Technische Nothilfe.
Hendrik erhob sich. „Guten Abend!“, sagte er.
Die beiden Männer schraken zusammen und richteten ihre Taschenlampen auf ihn. Hendrik blinzelte im grellen Licht.
Ludwig fasste sich als Erster.
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