Dunkle Tage
Der Schreibtisch mit den Zeitungen und dem aufgeschlagenen Terminkalender. Der Fußboden, praktisch bis in die hinterste Ecke übersät mit Blutspritzern. Das Fenster mit den zurückgezogenen Vorhängen, durch das man den Garten erkennen konnte mitsamt dem Busch, hinter dem vermutlich der Mörder gesessen hatte. Fingerabdrücke auf Tischen, Schränken, Gläsern.
Stirnrunzelnd ging Hendrik noch einmal zurück. Irgendein Detail, ausgelöst durch den Anblick der Fotos, war seinem Unterbewusstsein aufgefallen. Hatte es mit der Leiche zu tun? Er betrachtete die entsprechenden Bilder. Nein, das war es nicht. Frustriert ging er von einem Foto zum nächsten, um die Lösung des Rätsels zu erzwingen, aber er kam nicht drauf. Also kehrte er zu seinem Platz zurück und entspannte sich. Aus Erfahrung wusste er, das beste Rezept in so einem Fall war, an etwas anderes zu denken. Angestrengtes Grübeln hatte einen eher kontraproduktiven Effekt.
Gregor brachte Curt Broscheck herein. Der Mann hatte eine verschlossene Miene aufgesetzt und reagierte weder auf Hendrik noch auf die Fotos an den Wänden. Vermutlich hatte er die ohnehin bereits bei den vorigen Verhören zu Gesicht bekommen.
Hendrik zückte Bleistift und Papier. Ohne dass eine Absprache nötig gewesen wäre, übernahm er wieder das Amt des Protokollanten.
„Fangen wir also noch mal an“, leitete Gregor das Verhör ein.
„Ich hab’ nix zu sagen.“
„Lassen wir die Beweise der Mikroanalyse und die Zeugenaussagen einmal beiseite. Ihre Frau war eben hier und hat ausgesagt –“
„Meine Frau?“ Der abrupte Wechsel von Gleichgültigkeit zu Anspannung war verblüffend. „Meine Frau is’ frei?“
„Wussten Sie das nicht?“ Gregor war irritiert. „Wir haben sie entlassen, kurz bevor wir Sie verhafteten. Ich dachte, man hätte Sie informiert.“
Es war Curt Broscheck anzusehen, wie sich die Gedanken in seinem Kopf überschlugen. „Warum …?“
„Das Messer mit ihren Fingerabdrücken war nicht das Mordmesser. Natürlich ist es möglich, dass sie es trotzdem getan hat, aber mir sieht das eher nach dem Versuch aus, ihr den Mord in die Schuhe zu schieben.“
Curt Broscheck schien den Vorwurf gar nicht zu begreifen, der in Gregors Bemerkung steckte. „Dann is’ sie unschuldig?“ Wenn die Überraschung in seinem Gesicht nicht echt war, musste er ein verdammt guter Schauspieler sein.
Hendrik begriff. „Sie haben gedacht, sie war es!“
Zögernd nickte der Arbeiter.
„Und Ihre Frau glaubt, Sie hätten den Mord begangen.“
„Ich? Aber wie kommt sie darauf …?“
„Sie haben sich bei unserem ersten Besuch nicht gerade unverdächtig benommen“, übernahm Gregor wieder die Gesprächsführung. „Meinen Sie nicht, dass es besser wäre, uns endlich die Wahrheit zu erzählen?“
„Das is’ kein Trick, oder?“, fragte der Mann misstrauisch und wandte sich dabei an Hendrik, den er wohl als unparteiischen Dritten ansah. „Sie is’ wirklich frei?“
„Sie ist auf dem Weg nach Hause.“
Curt Broscheck musterte ihn eindringlich und sank in seinen Stuhl zurück. „Dann is’ alles gut. Fragen Sie, was Sie woll’n, ich werde reden.“
„Warum sind Sie am Mordabend zur Villenkolonie Grunewald rausgefahren?“
„Ich kam vonner Arbeit. Barbara war nich’ da. Eine halbe Stunde hab’ ich gewartet, dann hab’ ich es nich’ länger ausgehalten.“ Er zögerte. „Sie … sie hat oft so geredet, den bring’ ich um und so … wie man eben so red’. Wir ham ihn alle gehasst. Als sie nich’ da war, dachte ich … sie war sonst immer da, wenn ich nach Hause kam. Es hat sie verrückt gemacht, dass wir am nächsten Tag wieder aus der Wohnung sollten.“
„Sie befürchteten also, Ihre Frau könnte ihre Drohung wahr machen.“
„Ich dachte, vielleicht kann ich sie davon abbringen. Es hat mir nicht Leid getan um das Schwein. Aber unsereins zieht bei so was immer den Kürzeren. Also hab’ ich mir von den Cremers ’n Rad geborgt und bin wie der Teufel ’raus nach Grunewald. Feine Gegend. Nur reiche Pinkel.“
„Haben Sie kein eigenes Fahrrad?“
„Musst’ ich verkaufen, um die Schulden zu bezahl’n.“
„Und wie kommen Sie zur Arbeit?“
„Zu Fuß natürlich.“
Hendrik rechnete nach: Wenn Curt Broscheck acht Stunden in der Fabrik arbeitete und dazu einen Fußmarsch von noch einmal je einer Stunde bis zum Humboldthain auf sich nehmen musste, dann betrug seine Arbeitszeit in Wirklichkeit zehn Stunden. Es gab viele, denen nichts anderes übrig
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