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Dunkle Tage

Dunkle Tage

Titel: Dunkle Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Kunz
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abzuschütteln, eine Lähmung, die nicht in den Muskeln saß, sondern im Kopf, im Herzen? Wieder für die andere Welt einzutreten? Existieren kann man nicht ohne Leidenschaft , sagte Kierkegaard. Bis vor wenigen Tagen hatte Hendrik gelebt, als sei seine Seele mit den Kameraden auf dem Schlachtfeld gefallen. Er hatte gegessen, geatmet, sogar Scherze gemacht, aber nichts davon hatte je sein Herz erreicht.
    Erst jetzt merkte er, dass er fror. Er beschleunigte seine Schritte, um sich durch Bewegung Wärme zu verschaffen und gleichzeitig seine Gedanken dazu zu bringen, sich vorwärtszubewegen statt im Kreis. Vielleicht konnte er seinem Leben noch einmal eine neue Wendung geben. Die Morduntersuchung hatte etwas in ihm geweckt, das er längst zerstört glaubte, einen Hunger, ein Verlangen danach zu leben, das er nicht wieder loslassen wollte. Zum ersten Mal seit seiner Teilnahme an dem unseligen Krieg bereitete ihm wieder etwas Freude. Ein anregendes Gespräch mit Diana, der Funke in Anton Broschecks Augen, ein Ziel zu haben, an dem er seinen Scharfsinn messen konnte – all das erinnerte ihn daran, wie wertvoll das Leben war.
    Hendrik hielt das keimende Hochgefühl fest und hangelte sich daran empor. Sah es nicht aus, als sei der Putsch bald vorüber? Alles in allem waren die vergangenen Tage glimpflich abgelaufen. Es war nicht undenkbar, dass die Menschen aus diesem Vorfall lernen würden, dass sie diese Republik, so unfertig sie auch sein mochte, zu schätzen begannen. Dass sie eine andere Welt möglich machten.
    Schüsse und Schreie ließen ihn zusammenfahren. Das Rattern von Gewehren, mit wütendem Geheul beantwortet, gar nicht weit entfernt. Es schien vom Kottbusser Tor zu kommen. So rasch es in der Dunkelheit möglich war, lief Hendrik auf die Geräusche zu.
    Fackeln und Laternen erhellten das Gelände an der Hochbahn auf gespenstische Weise. Mindestens sechs- oder siebenhundert Menschen hatten sich zusammengerottet und an der Admiralstraße eine Barrikade errichtet. Wie Hendrik erfuhr, war es den Männern gelungen, erfolgreich eine Patrouille der Sipo zurückzuschlagen und die daraufhin erscheinenden Soldaten der Reichswehr ins Wasser des nahe gelegenen Kanals zu werfen.
    Inzwischen war eine neue, stärkere Abteilung der Reichswehr auf dem Kampfplatz erschienen und lieferte sich ein hitziges Gefecht mit den Arbeitern. Anwohner hatten ihre Fenster geöffnet und spähten hinaus, die meisten waren zumindest so klug, die Petroleumlampen in ihren Wohnungen zu löschen.
    Zu seinem Entsetzen entdeckte Hendrik, wie die Soldaten fünfhundert Meter von den Barrikaden entfernt einen Minenwerfer in Stellung brachten. Während ringsum das Gefecht tobte, wurde das Rohr geladen und ein Ziel anvisiert. Die Männer neben dem Gerät hielten sich die Ohren zu. Als nächstes gab es einen dumpfen Knall. Heulend sirrte das Geschoss durch die Luft und krepierte unweit der Hochbahn. Eine furchtbare Explosion erfolgte, riss Straßenpflaster und Schienen auf und zerfetzte mehrere Menschen. Geschosssplitter flogen umher und verfehlten Hendrik nur um Haaresbreite.
    Dann war die Luft erfüllt von Schmerzens- und Hilfeschreien. Während der größte Teil der Menge auseinanderstob, halfen andere den Verletzten auf und schleppten sie aus der Gefahrenzone. Ein Mann, der einen anderen mitschleifte, torkelte Hendrik entgegen. Immer wieder sank der Verwundete zu Boden. Hendrik griff zu und erkannte mit Grausen, dass ein Arm abgerissen war. Trotz des starken Blutverlustes kämpfte der Arbeiter gegen eine Ohnmacht an. Eine Frau kam schreiend herbeigelaufen und umschlang ihn schluchzend, während sie unablässig seinen Namen rief. Weitere Helfer eilten hinzu und übernahmen den Mann.
    Am ganzen Körper mit Blut beschmiert, blieb Hendrik zurück und starrte fassungslos auf das Bild sinnloser Zerstörung, frierend, allein und jeder Zuversicht beraubt.
23
    Die Gewalttätigkeiten hörten nicht auf. Zwölf Todesopfer und zahllose Verletzte waren bei dem Barrikadenkampf an der Admiralstraße zu beklagen gewesen. In der Nacht hatten darüber hinaus die Kommunisten versucht, sich der Kaserne in der Wrangelstraße zu bemächtigen.
    Kapp hatte offiziell seinen Rücktritt bekanntgegeben, getarnt als erfolgreiche Beendigung seiner Mission, und die Frage, die alle beherrschte, war: Ziehen auch die Truppen ab? Von einer Abdankung von General Lüttwitz war nichts zu vernehmen, die Gefahr einer Militärregierung schien eher größer geworden.
    Obwohl Hendrik sich

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