Dunkle Verlockung (German Edition)
sollen, hätte erkennen müssen, welche Konsequenzen es haben konnte, wenn sie erst mal echte Freiheit kostete. Natürlich würde sie dem Mann dankbar sein, der sie zum ersten Mal mit an den Himmel genommen hatte. Aber selbst wenn er es von Anfang an gewusst hätte, er hätte doch nicht anders gehandelt, sich sogar gegen einen Erzengel durchgesetzt, damit Jessamy die Wolken berühren konnte. Darin lag nur wenig Eigennutz – sie sollte ihn um seinetwillen brauchen und wollen. In seinem ganzen Leben war er noch niemandem einfach nur deshalb wichtig gewesen, weil er Galen war.
»Hast du vor, mich die ganze Reise über zu ignorieren, du störrisches Biest?«, raunte Jessamy, als sie wieder in das makellose Blau des Himmels eintauchten und unter ihnen eine frische, grüne Landschaft sichtbar wurde, durch die sich funkelndes Wasser schlängelte.
Da ihm klar wurde, dass er ihr nicht widerstehen konnte, wenn sie ihn mit so unerwarteter Zuneigung neckte, erwiderte er: »Es ist ein langer Flug.« Es war der Versuch, sie ebenfalls ein wenig zu necken, obwohl er so etwas noch nie zuvor getan hatte. »Wenn wir unseren Gesprächsstoff jetzt schon aufbrauchen, wird der Rest unserer Reise von tödlicher Stille beherrscht sein.«
Ihr Lachen umhüllte ihn auf eine Art und Weise, die sich gleichzeitig zärtlich und bedrohlich anfühlte. »Mir werden niemals die Worte ausgehen, Galen.«
»Dann erzähl mir etwas.« Er wollte diese Zeit mit ihr voll auskosten. Was auch geschehen mochte, wenn sie erst einmal Raphaels Territorium erreicht hatten – während dieser Reise gehörte sie nur ihm. Und er war nicht zu stolz, um sich der Vorstellung hinzugeben, dass er ihr tatsächlich so viel bedeuten könnte, wie er es sich wünschte. »Erzähl mir von Alexander. Ich habe mich mit ihm beschäftigt, bin ihm aber nie begegnet.«
»Alexander«, sagte sie nachdenklich, »ist der älteste aller Erzengel. Nur Caliane war älter als er, und sie verschwand, als Raphael noch ein Jüngling war.«
Nie würde Jessamy den tief bewegenden Klang von Calianes Lied vergessen, zu dem die Erzengelsfrau ihren geliebten kleinen Jungen gewiegt hatte. Sie hatte die reinste aller Stimmen gehabt … so wunderschön, dass sie mit ihren Liedern die Einwohner zweier blühender Städte ins Meer gelockt hatte, um einen Krieg zu verhindern – was ihr auf diese Weise auch gelungen war. Aber gleichzeitig hatte es für jeden Bürger dieser Städte den Tod bedeutet und später auch den ihrer Kinder.
Es war, als hätten Schock und Trauer die Kleinen ausgehöhlt und sie in stumme, atmende Hüllen verwandelt – bis sie sich eines Tages zusammenrollten und starben. Niemals würde Jessamy vergessen, welch finstere Geschichte sie in jenem Jahr hatte niederschreiben müssen. Man hatte ihr Zeichnungen geschickt, die sie zwischen die Buchseiten gelegt hatte – als stummen Beleg für den furchtbaren Preis, den die Unschuldigen hatten bezahlen müssen. Zeichnungen von tausend kleinen Kindern, die für ihre Bestattung mit liebevoller Sorgfalt verhüllt worden waren.
Tod durch gebrochene Herzen, hatte Keir gesagt, als er mit gequältem Blick in die Zufluchtsstätte zurückgekehrt war. Tod durch einen Kummer, den Unsterbliche nie begreifen werden.
»Außerdem«, fuhr sie fort, die Kehle wie zugeschnürt von ihren Erinnerungen, die noch genauso schmerzten wie damals, »ist Alexander ein gut aussehender Mann.« Mit goldenen Haaren, silbernen Augen, einem kantigen Profil und einem vom Krieg gestählten Körper vermittelte Alexander den Eindruck physischer Vollkommenheit – und dann hatte man noch nicht die schiere Schönheit seiner Flügel aus reinem, metallischem Silber gesehen. »Er ist so atemberaubend, dass ich glaube, Michaela möchte ein Kind von ihm zur Welt bringen.«
Galen kicherte. »Sie versucht, einen Sohn oder eine Tochter nach dem Abbild der beiden schönsten Engel der Welt zu gebären?«
»Ja. Aber ich glaube nicht, dass ihr das gelingen wird. Davon abgesehen, dass Alexander bereits einen Sohn hat, ist er nicht wie ihre sonstig en Eroberungen.« Er war zu intelligent und konnte hinter Michaelas erlesenen Gesichtszügen ihr kaltes, ehrgeiziges Herz erkennen. »Er sagte einmal, es wäre, als würde man sich mit dieser schwarzen Spinne einlassen, die ihre Partner frisst.«
Jessamy hatte Alexanders Scharfsichtigkeit stets respektiert, auch wenn sie seine Ansicht in Bezug auf Raphael nicht teilte. »Warum hast du dich nicht um eine Stelle an Alexanders Hof beworben?«,
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