Dunkle Verlockung (German Edition)
fragte sie. Titus und Alexander unterschieden sich deutlich in ihrem Herrschaftsstil, aber beide waren sie kriegerische Männer.
»Sein Alter und seine Macht drohen ihn für die Realität und die Veränderungen der Welt blind zu machen«, antwortete Galen. »Sollte Alexander seine Ziele erreichen, würden wir für immer in der Zeit eingeschlossen bleiben wie Glühwürmchen in Bernstein.«
Dem konnte Jessamy nicht widersprechen. Bei seinem letzten Besuch hatte Alexander etwas Ähnliches gesagt.
Ich bin zu alt für diese Welt.
Seine Worte standen in verblüffendem Kontrast zu der alterslosen Perfektion seines Äußeren. Aber er hatte noch mehr gesagt. Mit gedankenvoll gerunzelter Stirn rief sie sich den Ursprung dieses Gesprächsfetzens in Erinnerung – eine Unterhaltung, die vor beinahe zwei Jahren stattgefunden hatte:
Ich bin es leid, Jessamy. Seine silbernen Augen waren so hell, dass sie keinem Sterblichen gehören konnten. Den Krieg, das Blutvergießen, die Politik.
Du hast die Wahl, dich für den Frieden zu entscheiden. Sie berührte ihn nicht, wie sie es bei Raphael vielleicht getan hätte. Alexander war viel, viel älter als sie, und trotzdem suchte er manchmal ihren Rat. Es ist nicht nötig, eine Armee gegen Raphael aufzustellen, wie du es in Erwägung ziehst.
Er lächelte schwach, aber es lag keine Heiterkeit darin. Frieden ist eine Illusion … aber ja, vielleicht liegst du mit deinem Rat richtig. Vielleicht ist Raphaels Zeit wirklich gekommen.
Sie sog scharf die Luft ein, als ihr die Bedeutung dieser Erinnerung klar wurde. Sofort erzählte sie Galen davon. »Niemand ahnt oder erwartet, dass Alexander die Waffen niederlegen könnte.« Selbst sie hatte seine Worte für bedeutungslose Träumereien gehalten, die vergessen sein würden, sobald seine Kampfeslust wieder aufflammte.
Als der Wind ihm das dichte rote Haar aus dem Gesicht peitschte, drehte Galen seinen Körper so, dass die Böen ihr nichts anhaben konnten. »Und doch versammelt sich genau jetzt seine Armee.«
Jessamy ging jedes Detail dieser Erinnerung noch einmal durch, jede feine Veränderung in Alexanders Miene, aber letztendlich war es nur eine von Tausenden, Hunderttausenden von Erinnerungen und hatte vielleicht überhaupt nichts zu bedeuten. »Er ist ein Erzengel«, sagte sie. »Die können unberechenbar sein.«
In einem sanften Gleitflug begann Galen den Abstieg aus dem Himmel. »Wir haben die erste Station erreicht – Raphael wird von deiner Erinnerung erfahren wollen.«
Die Landung verlief dank Galens kraftvoller Flügel tadellos. Als Jessamy die Hände ausstreckte, um ihm die Schultern zu massieren, ließ er es geschehen. »Bist du müde?« Es war egoistisch von ihr, aber sie wollte von niemandem außer Galen in den Armen gehalten werden.
Er schüttelte den Kopf und wandte das Gesicht in die Richtung, in der Raphael mit den Wachen sprach. »Komm.«
Sie sprach erst, als sie mit Raphael und Galen allein in dem überkuppelten Haus war. Das sengende Blau seiner Augen ging ihr durch Mark und Bein, und sie fragte sich, ob die atemberaubende Kraft darin ein Vorbote dessen war, was die Zukunft bringen würde. Caliane hatte die Macht gehabt, den Geist anderer Engel zu zerstören, und Raphael war in vielerlei Hinsicht der Sohn seiner Mutter.
»Jason«, sagte der Erzengel, scheinbar aus dem Zusammenhang gerissen, »ist seit vielen Monaten erfolglos. Er konnte einen seiner Leute in Alexanders Stallungen unterbringen und in den Schenken einige Informationen aus den Gerüchten der Sklaven und Soldaten aufschnappen, aber er schafft es nicht, jemanden direkt in Alexanders Hof einzuschleusen. Nicht einmal in der Öffentlichkeit hat er Alexander zu Gesicht bekommen, um seine geistige Verfassung einschätzen zu können.«
Galens Flügel raschelten, als er sie zurechtrückte. »Das ist nicht ungewöhnlich. Es wäre unmöglich, Titus’ Hof zu unterwandern, und Alexander ist ebenfalls ein Krieger.«
Kopfschüttelnd legte Jessamy eine Hand auf seinen Flügel. »Nein. Alexander hat es sich vor langer Zeit zum Grundsatz gemacht, an jedem fünften Tag mit seinen Soldaten zu marschieren und zu fliegen. Er tut es bei Regen und Sonne, bei Hagel und Schnee. Er hat stets selbst an vorderster Front gekämpft.«
»Die Ironie daran ist«, fuhr Raphael fort, »dass ich mir in dieser Hinsicht ein Beispiel an Alexander genommen habe. Und doch hat Jason ihn in jüngster Zeit nicht mehr seiner Pflicht nachkommen sehen.« Der Erzengel ging in der Hütte auf und
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