Dunkle Verlockung (German Edition)
zerkratzen.«
»Oh nein, das haben sie nicht getan.« Christian war so eitel, wenn es um seine glänzenden Stiefel ging. »Ihr scheußlichen Geschöpfe.« Sie stupsten die Köpfchen gegen Nimras Kinn und wollten spielen. »Es wird mir guttun, wieder Haustiere um mich zu haben«, sagte sie, als sie an die junge Mimosa und an Queen zurückdachte. Die Erinnerungen waren bittersüß, aber kostbar.
Noel trat näher und streckte die Hand aus, um dem Kätzchen, das ein schwarzes und ein weißes Ohr hatte, den Rücken zu reiben. Ihr fiel auf, dass das andere zwei weiße Ohren mit schwarzen Spitzen hatte. »Ich fürchte, an dieses Geschenk ist eine Bedingung geknüpft.«
Als sie den düsteren Ton in seiner Stimme hörte, setzte sie die Kätzchen auf dem Boden ab; sie wusste, sie würden sich nicht weit von dem Pappkarton entfernen, in dem sie offenbar geschlafen hatten. »Welche?«, flüsterte sie und blickte in sein markantes, männliches Gesicht.
»Ich fürchte«, er öffnete die Hand, in der ein sonnengoldener Ring mit einem Bernsteinherzen lag, »der archaische, menschliche Teil von mir fordert trotz allem diesen einen Bund.«
Bernstein trugen viele Menschen und Vampire, wenn sie in einer Beziehung waren. Nimra hatte noch nie für einen Mann Bernstein getragen. Doch jetzt hob sie die Hand und ließ ihn den Ring an ihren Finger stecken. Es war ein kaum spürbares Gewicht, und doch bedeutete es alles. »Ich hoffe, du hast ein passendes Gegenstück gekauft«, murmelte sie, denn wie es schien, war auch sie nicht so zivilisiert, dass sie überhaupt keinen Bund gebraucht hätte.
Nicht, wenn es um Noel ging.
Sein Lächeln war ein wenig schief, als er in seine Tasche griff und einen dickeren, maskulineren Ring hervorholte. Ein grobes Stück Bernstein war an der Stelle eingefasst, an der bei ihrem Ring eine zarte Filigranarbeit mit einem polierten Stein saß. »Perfekt.«
»Wir werden keine Kinder haben können.« Er sprach diese ernsten Worte, während er von tiefem Glück erfüllt den Ring an seinen Finger schob. »Es tut mir leid.«
Ein melancholisches Gefühl rührte sich in ihr, doch es war kein Kummer. Nicht, wenn die Ewigkeit in durchscheinendem Blau gemalt war. »Es wird immer jemanden wie Violet geben, der ein Zuhause braucht«, sagte sie, während sie mit dem Daumen über seinen Ring fuhr. »Sie sind vielleicht nicht mein Fleisch und Blut, aber mein Herz und meine Seele, das sind sie.«
Sie standen dicht voreinander, und Noel strich mit den Fingern an ihrem linken Flügel hinab, eine langsame, besitzergreifende Bewegung. Ebenso besitzergreifend strich sie an seiner Brust hinauf, um ihm dann die Arme um die Schultern zu legen. Keiner von beiden sagte etwas, und sie brauchten auch keine Worte. Warm spürte sie das Metall seines Rings an ihrer Wange, als er ihr Gesicht in beide Hände nahm.
Ihr Wolf. Ihr Noel.
1
Vor vierhundert Jahren
Sie hatte den Aufstieg und Fall von Imperien und Königreichen bezeugt, hatte Königinnen kommen und gehen sehen und miterlebt, wie Erzengel im Kampf aufeinandertrafen und die Welt mit Strömen von Blut übergossen. Sie hatte die Geburt des Erzengels Raphael festgehalten, ebenso wie das Verschwinden seiner Mutter Caliane und die Hinrichtung seines Vaters Nadiel.
Jahrhundert um Jahrhundert hatte sie zugesehen, wie ihre Schüler in die Welt hinausflogen, mit Träumen im Herzen und einem zögerlichen Lächeln auf den Lippen. Sie las die Briefe, die sie ihr aus den entlegensten Ländern und Urwäldern schrieben, aus Gebieten mit strömendem Regen, endlosen Wüsten und erbarmungslosen Winden. Und sie feierte die seltenen, freudigen Ereignisse, wenn ihre Schüler selbst Eltern eines kleinen Engels wurden.
All dies erlebte sie von den zerklüfteten Gipfeln und der schimmernden Schönheit der Zufluchtsstätte aus, denn sie war ein erdgebundener Engel, dessen Flügel nie zum Fliegen bestimmt gewesen waren. Das erste Jahrtausend nach ihrer Entstehung war hart gewesen, das zweite herzzerreißend. Jetzt, nachdem mehr als die Hälfte des dritten vorübergezogen war und das Gespenst eines weiteren, verheerenden Krieges als verstohlener Schatten am Horizont lauerte, spürte sie nur noch Resignation.
»Jessamy! Jessamy!«
Sie wandte sich von der Felskante ab, wo sie gestanden und in den kristallklaren blauen Himmel geblickt hatte – einen Himmel, den sie niemals berühren würde. Mit schnellen Schritten lief sie auf dem felsigen Untergrund dem kleinen Mädchen entgegen, dessen Flügel über
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