Dunkle Wasser
hatte es Miß Deale recht klug angestellt, daß sie nur uns erlaubte, die wertvollen Bücher mit nach Hause zu nehmen – weil die anderen Schüler nicht so gut darauf aufpassen könnten, wie sie uns sagte.
Es stimmte jedenfalls. Wir lasen die Bücher nur, nachdem wir uns die Hände gewaschen hatten.
Ich hatte schon den Verdacht, daß Miß Deale unseren Vater recht gut leiden konnte. Sie hätte wirklich mehr Geschmack haben sollen. Nachdem was Großmutter erzählte, hatte ihm sein »Engel« korrekt zu sprechen beigebracht, und sein gutes Aussehen und sein natürlicher Charme gefielen mancher vornehmen Dame – wenn er sich einmal dazu herabließ, charmant zu sein.
Vater ging jeden Sonntag mit uns zur Kirche und saß neben Sarah, umringt von seiner großen Familie. Miß Deale saß klein, zierlich und sehr aufrecht auf der gegenüberliegenden Seite und starrte Vater an. Ich konnte ja verstehen, daß sie sein gutes Aussehen bewunderte, aber sie hätte seine mangelhafte Bildung nicht vergessen sollen. Nachdem, was Großmutter mir erzählt hatte, war Vater schon in der fünften Klasse von der Schule abgegangen.
Die Sonntage folgten sehr schnell aufeinander, besonders wenn man nicht die passende Kleidung besaß. Ich hoffte jedesmal, daß ich ein neues hübsches Kleid bekäme, bevor der nächste Sonntag kam; aber es war überhaupt sehr schwierig, zu neuen Kleidern zu kommen, da Sarah immer so viel zu tun hatte. Also standen wir wieder einmal in der letzten Bankreihe in unseren Fetzen, die andere Leute als Lumpen weggeworfen hätten. Wir sangen gemeinsam mit den besten und reichsten Familien in Winnerrow und den anderen Hillbillies, die nicht besser oder schlechter gekleidet waren als wir.
An jenem Sonntag nach dem Gottesdienst war ich gerade dabei, Unsere-Jane zu säubern, während sie draußen vor dem Drugstore, ein Eis leckte, nicht weit von Vaters Lieferwagen.
Miß Deale hatte uns fünf Casteel-Kindern Eis spendiert. Sie stand etwa fünf Meter von Vater und Mutter entfernt, die sich gerade wegen irgend etwas stritten, und es war durchaus möglich, daß Vater Sarah jeden Augenblick schlagen oder Sarah ihm eine Ohrfeige geben würde. Miß Deale starrte sie an. Ich mußte nervös schlucken und wünschte, daß Miß Deale weitergehen oder wenigstens woanders hinschauen würde, aber sie blieb wie angewurzelt stehen und lauschte.
Ich fragte mich, was sie in diesem Augenblick wohl dachte, aber ich habe es nie erfahren.
Keine Woche verging, in der sie Vater nicht einen Brief über Tom und mich zukommen ließ. Er war selten zu Hause; und wenn er auch dagewesen wäre, er hätte ihre kleine, saubere Handschrift gar nicht lesen können; und wenn er es gekonnt hätte, so hätte er ihr trotzdem niemals geantwortet. Erst letzte Woche hatte sie ihm geschrieben:
Sehr geehrter Mr. Casteel,
sicherlich sind Sie sehr stolz darauf, daß Tom und Heaven zu meinen besten Schülern gehören. Ich würde gerne zu einem geeigneten Zeitpunkt mit Ihnen zusammenkommen, um die Möglichkeit eines Stipendiums für Ihre beiden Kinder zu besprechen.
Hochachtungsvoll
Marianne Deale
Gleich am nächsten Tag erkundigte sich Miß Deale bei mir:
»Heaven, hast du ihm den Brief nicht gegeben? Er wird doch bestimmt nicht so unhöflich sein und meinen Brief nicht beantworten. Du liebst ihn sicher sehr.«
»Und wie ich das tue«, gab ich zynisch zur Antwort.
Miß Deale bekam schmale Augen und starrte mich mit einem seltsamen Ausdruck an. »Ich bin entsetzt, richtig entsetzt!
Liebst du deinen Vater etwa nicht, Heaven?«
»Aber natürlich liebe ich ihn, Miß Deale, wirklich. Besonders wenn er ›Shirley’s Place‹ besucht.«
»Heaven! Du solltest so etwas nicht sagen. Was weißt du schon über ein solches Haus?« Sie hielt inne und sah verlegen drein. Sie senkte die Augen, bevor sie mich fragte: »Geht dein Vater wirklich dorthin?«
»Bei jeder Gelegenheit, die sich ihm bietet – sagt Mutter jedenfalls.«
Am nächsten Sonntag sah Miß Deale nicht mehr voller Bewunderung in Richtung Vater; im Gegenteil, sie würdigte ihn keines Blickes.
Auch wenn Vater bei Miß Deale in Ungnade gefallen war, so wartete sie immer noch im Laden auf uns fünf Kinder, während Vater und Mutter sich mit ihren Freunden aus den Bergen unterhielten. Unsere-Jane rannte mit offenen Armen auf unsere Lehrerin zu und schmiegte sich an Miß Deales blauen Rock. »Hier bin ich!« rief sie begeistert. »Kriege ich wieder ein Eis?«
»Das tut man nicht, Unsere-Jane«, ermahnte
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