Dunkle Wasser
verwenden. Ab heute könnt ihr die Bücher benutzen, und bitte nehmt euch so viele Bücher aus der Bibliothek, wie ihr in einer Woche lesen könnt. Natürlich müßt ihr auf die Bücher achten, sie sauber halten und termingerecht zurückbringen.«
Ich war so entzückt, daß ich am liebsten laut aufgeschrien hätte. »Alle Bücher, die wir in einer Woche lesen können? Miß Deale, wir sind gar nicht stark genug, um so viele zu tragen!«
Sie lachte, und seltsamerweise traten ihr Tränen in die Augen. »Ich hätte mir denken können, daß du etwas Ähnliches sagen würdest.« Sie strahlte, als Tom mit Unserer-Jane, die ziemlich erschöpft aussah, im Arm und Keith an der Hand hereintrat. »Tom, ich glaube, du hast deine Arme schon so voll, daß du keine Bücher mehr nach Hause tragen kannst.«
Er sah sie verdutzt an. »Wollen Sie damit sagen, daß wir Bücher nach Hause mitnehmen dürfen? Ohne zu bezahlen?«
»Ganz recht, Tom. Und nehmt auch einige für Unsere-Jane, Keith und Fanny mit.«
»Fanny liest keine«, sagte Tom und seine Augen strahlten,
»aber Heaven und ich werden sie ganz bestimmt lesen.«
An diesem Tag gingen wir mit fünf Büchern zum Lesen und vier zum Lernen nach Hause. Keith half uns, indem er zwei Bücher schleppte, damit Tom und ich Unsere-Jane tragen konnten, sobald sie müde wurde. Ich erschrak jedesmal, wenn sie nach ein paar Schritten bergauf schon ganz weiß wurde.
Fanny lief hinter uns her, von ihren Verehrern umschwärmt wie eine Blume von Bienen. Keith bummelte hinter Fanny und ihren Freunden her. Er wollte nicht mit uns gehen, aber aus einem anderen Grund als Fanny. Keith liebte die Natur, die Geräusche und Gerüche der Erde, des Windes, des Waldes und vor allem die Tiere. Ich blickte über die Schulter zurück, um zu sehen, wo er blieb, und entdeckte ihn, wie er ganz versunken eine Baumrinde betrachtete. Er hörte nicht einmal, daß ich seinen Namen rief. »Keith, beeil dich!«
Dann rannte er ein kurzes Stück vor, hielt wieder inne, hob einen toten Vogel auf und untersuchte ihn mit vorsichtigen Händen und aufmerksamen Augen. Wenn wir ihn nicht immer wieder daran erinnerten, wo er sich befand, dann blieb er oft weit hinter uns zurück und fand nicht mehr nach Hause. Es war wirklich eigenartig, wie zerstreut Keith war, der nie wußte, wo er gerade war, sondern nur darüber Bescheid wußte, wo etwas wuchs, brütete oder aufzuspüren war.
»Was ist eigentlich schwerer, Tom, die Bücher oder Unsere-Jane?« fragte ich, während ich sechs Bücher schleppte.
»Die Bücher«, antwortete er prompt und setzte unsere kränkelnde Schwester auf den Boden, so daß ich ihm die Bücher geben und Unsere-Jane tragen konnte.
»Was sollen wir bloß tun, Mutter?« fragte Tom, als wir unsere Hütte erreicht hatten, die wieder voller Rauch war, so daß es uns sofort die Tränen in die Augen trieb. »Unsere-Jane wird so furchtbar müde, aber sie muß trotzdem in die Schule.«
Sarah sah tief in die müden Augen von Unsere-Jane, berührte ihr blasses Gesicht, hob ihr Jüngstes sanft hoch, trug es zum großen Bett und legte es hinein. »Sie braucht einen Arzt, aber wir können uns keinen leisten. Deshalb werd’ ich oft so verdammt wütend über euren Vater. Er hat genug Geld fürs Saufen und für die Weiber, aber keins für einen Arzt, um sein eigen Fleisch und Blut zu kurieren.«
Sie klang sehr bitter.
An dem Tag, als Miß Deale uns erlaubt hatte, die Bücher mit nach Hause zu nehmen, schenkte sie uns eine ganze Welt.
Sie erschloß uns unerhörte Schätze, als sie uns ihre Lieblingsbücher in die Hände gab. Es waren Klassiker wie Alice im Wunderland, Alice hinter den Spiegeln, Moby Dick, Die Geschichte zweier Städte und drei Romane von Jane Austen – und sie waren alle für mich. In den folgenden Tagen wählte Tom seine Bücher aus, es waren typische Jungenbücher, die Hardy-Serie, sieben Bände davon. Ich dachte schon, er würde sich nur Unterhaltungsliteratur aussuchen, aber als er auch einen dicken Shakespeare-Band nahm, leuchteten Miß Deales blaue Augen auf.
Wir lasen Bücher von Victor Hugo, Alexandre Dumas und waren begeistert von den Abenteuern – auch wenn sie schrecklich aufregend waren. Wir lasen Klassiker, und wir lasen Schund; wir lasen alles, um der erbärmlichen Berghütte zu entkommen. Wenn wir ins Kino hätten gehen können oder einen Fernsehapparat oder andere Unterhaltung gehabt hätten, dann wären wir vielleicht weniger begeistert von den Büchern gewesen. Und vielleicht
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