Dunkle Wasser
schließlich die Berge und unsere ärmliche Hütte verlassen könnten, um eine größere und reichere Welt zu betreten.
Tom und ich sahen uns an, hingerissen davon, daß wir unserer strahlenden Lehrerin gegenübersaßen, die uns schon ein wenig von jener neuen Welt gezeigt hatte, als sie uns für das Lesen begeisterte. Ich saß in der Nähe des Fensters, denn wenn Tom hinaussah, fühlte er immer den Drang, die Schule zu schwänzen, obwohl er unbedingt die High School beenden und ein Stipendium bekommen wollte, um aufs College zu gehen. Würde es uns nämlich gelingen, das College mit guten Noten abzuschließen, dann hätten wir es wohl geschafft. Wir hatten schon alles geplant. Ich setzte mich und seufzte erleichtert. Jeder Tag, an dem es uns gelang, die Schule zu besuchen, war eine gewonnene Schlacht, die uns näher an unser Ziel brachte. Mein Ziel war es, Lehrerin zu werden, genauso wie Miß Deale.
Mein Idol hatte Haare, die die gleiche Farbe hatten wie das rotblonde Haar Unserer-Jane. Miß Deale hatte hellblaue Augen und war schlank und gut gebaut. Sie stammte aus Baltimore und sprach anders als wir alle. Für mich war sie wirklich und wahrhaftig vollkommen.
Allein ihr Anblick und ihre Anwesenheit gaben Tom und mir die Gewißheit, daß die Zukunft uns noch etwas Besonderes bringen würde. Sie achtete ihre Schüler, sogar uns in unseren schäbigen Kleidern, aber in punkto Ordnung, Sauberkeit und Höflichkeit ließ sie nichts durchgehen.
Als erstes mußten wir unsere Hausaufgaben abgeben. Da es sich unsere Eltern nicht leisten konnten, uns eigene Schulbücher zu kaufen, mußten wir unsere Hausaufgaben in der Schule machen. Manchmal wurde es aber einfach zu viel, besonders wenn die Tage schon kürzer wurden und die Dunkelheit hereinbrach, bevor wir zu Hause ankamen.
Ich schrieb eifrig von der Tafel ab, als Miß Deale hinter meinem Pult stehenblieb und mir zuflüsterte: »Heaven, bleib bitte mit Tom nach dem Unterricht hier. Ich möchte etwas mit euch beiden besprechen.«
»Haben wir etwas falsch gemacht?« fragte ich besorgt.
»Nein, natürlich nicht. Du stellst immer die gleiche Frage, Heaven. Wenn ich euch manchmal zu mir bitte, heißt das nicht immer, daß ich euch rügen will.«
Miß Deale schien nur dann von uns enttäuscht zu sein, wenn wir zurückhaltend und einsilbig auf ihre Fragen nach unserem Zuhause antworteten. Wir wollten Mutter und Vater nicht bloßstellen, und Miß Deale sollte nicht erfahren, wie ärmlich wir wohnten und wie kärglich unsere Mahlzeiten im Vergleich zu dem Essen waren, von dem uns die Stadtkinder erzählten.
Die Mittagszeit in der Schule war die schlimmste. Die Hälfte der Kinder aus dem Tal brachten braune Papiertüten mit ihrem Mittagessen mit, die andere Hälfte aß in der Cafeteria. Nur wir aus den Bergen brachten nichts mit, nicht einmal genug Kleingeld für einen Hot dog oder eine Cola. Wir aus den Bergen aßen bei Tagesanbruch ein Frühstück und eine zweite Mahlzeit vor dem Schlafengehen. Aber wir aßen niemals zu Mittag.
»Was will sie?« fragte mich Tom kurz angebunden während der Mittagspause, bevor er zum Ballspielen und ich zum Seilhüpfen ging.
»Weiß nicht.«
Miß Deale war dabei, Schulaufgaben durchzusehen, als Tom und ich nach der letzten Schulstunde blieben, voller Besorgnis um Keith und Unsere-Jane, die ohne uns völlig hilflos sein würden, wenn sie aus ihren Klassenzimmern kamen.
Plötzlich blickte Miß Deale auf. »Oh, entschuldige, Heaven!
Stehst du schon lange hier?«
»Nur ein paar Minuten«, log ich. »Tom ist schnell Unsere-Jane und Keith holen gegangen. Sie bekommen sonst Angst, wenn keiner von uns beiden sie abholt, um sie nach Hause zu bringen.«
»Was ist mit Fanny? Tut sie nichts?«
»Nun«, begann ich zögernd, um Fanny zu schützen, weil sie meine Schwester war, »manchmal wird Fanny abgelenkt und dann vergißt sie ihre Pflicht.«
Miß Deale lächelte. »Ich weiß, daß ihr einen langen Heimweg vor euch habt, ich werde deshalb nicht auf Tom warten. Ich habe mit den Mitgliedern der Schulkommission über euch beide gesprochen, in der Hoffnung, daß ich sie davon überzeugen könnte, euch Bücher für zu Hause mitzugeben. Aber sie bleiben hartnäckig, weil sie glauben, wenn sie euch Privilegien einräumen, dann müssen sie auch allen anderen Kindern kostenlos Schulbücher geben. Darum werde ich euch meine Bücher leihen.«
Ich starrte sie entgeistert an. »Aber werden Sie die Bücher nicht brauchen?«
»Nein. Ich kann andere
Weitere Kostenlose Bücher