Dunkle Wasser
wie in einem Alptraum, den jetzt nicht einmal das strahlendste Morgenlicht vertreiben konnte. In der Frühe hörte ich kein fröhliches Vogelzwitschern mehr (von den wenigen Vögeln, die den Mut gehabt hatten, zu bleiben), und ich betrachtete mir nicht mehr den Sonnenuntergang. Wir hatten nicht die Muße, draußen zu verweilen, zudem bestand die Gefahr, daß wir dann krank wurden, und niemand hätte uns gesund pflegen können. Wir hatten nicht einmal Zeit, aus dem Fenster hinauszusehen.
Bei Tagesanbruch war ich auf den Beinen und führte meinen täglichen Kampf fort, alles das zu bewältigen, was Sarah früher getan hatte. Erst jetzt, seit meine Stiefmutter nicht mehr da war, erkannte ich, wieviel mir erspart geblieben war, auch an ihren faulsten Tagen. Tom bemühte sich aufrichtig zu helfen, aber ich bestand darauf, daß er zur Schule ging, während Fanny wiederum nur allzu gerne zu Hause blieb.
Leider fehlte Fanny nicht etwa in der Schule, um zu helfen, sondern um sich aus dem Haus zu schleichen und Jungens zu treffen. Es war die Sorte Jungens, die zu nichts taugten und eines Tages im Gefängnis landen oder einen frühen Tod finden würden. Sie gehörten zu der Kategorie, die ständig Schule schwänzten, regelmäßig tranken, Billard oder Karten spielten und sich mit Mädchen herumtrieben.
»Brauch’ keine Erziehung mehr«, brauste Fanny auf, »bin schon genug erzogen!« Unzählige Male hatte sie das schon gesagt und sich dabei in einem Silberspiegelchen bewundert, das meiner Mutter gehört hatte; unglücklicherweise hatte Fanny es mir aus der Hand gerissen und für sich beansprucht, als ich es einmal unbedacht aus seinem Versteck hervorgeholt hatte. Das Silber war jedoch angelaufen, und so erkannte sie nicht, daß es wertvoll war. Bevor ich mich darum raufte und das Brot im Ofen in der Zwischenzeit anbrannte, beschloß ich, mir den Spiegel zu holen, wenn sie schlief, um ihn an einem besseren Ort zu verstecken. Wenigstens hatte sie den Koffer mit der Puppe noch nicht gefunden.
»Schlimm ist nur, in der Schule ist es wärmer als hier.
Heaven, warum mußt du nur so stolz sein? Hast mich damit angesteckt, jetzt kann ich nur die Wahrheit sagen, wenn du in der Nähe bist und alles als Lüge abtust, wo ich sonst laut herausschreien würd’, daß es alle hören: Wir sind hungrig! Wir frieren und sterben!«
Fanny weinte echte Tränen. »Eines Tages werd’ ich nie wieder hungrig sein und frieren… Wart’s nur ab!« schluchzte sie völlig gebrochen. »Hass’ diese Hütte! Was ich nicht alles anstellen muß, um nicht dauernd loszuheulen. Mag nicht weinen! Hass’ es, daß ich nich’ alles hab’, was die Stadtmädchen haben!… Heaven, vergiß deinen Stolz, dann kann ich auch meinen vergessen.«
Ich war völlig überrascht, denn ich hatte bis zu dieser Minute nicht geahnt, daß Fanny überhaupt irgendeinen Stolz besaß.
»Ist schon gut«, sagte ich sanft, »wein dich nur aus. Das wird dich erleichtern, und du hast dann die Kraft, deinen Stolz zu behalten… Es wird uns helfen, bessere, stärkere Menschen zu werden. Das hat Großmutter immer gesagt.«
Der Mond stand schon hoch am Himmel, als Tom erst aus der Schule zurückkehrte. Der Sturm blies ihn beinahe in die Hütte herein, und die Tür schlug sofort hinter ihm zu, bevor er noch zwei Eichhörnchen auf den Tisch schmiß. Es waren die von der kleinen grauen Sorte. Schnell zog er ihnen das Fell ab, während ich Unserer-Jane die Augen zuhielt. Keith stand da, mit vor Entsetzen geweiteten Augen, in denen die Tränen standen. Er mußte zusehen, wie seinen »Freunden« das Fell über die Ohren gezogen wurde. Bald kochte das Fleisch im Eintopf mit Karotten und Kartoffeln. Keith kauerte sich in eine Ecke und erklärte, er habe keinen Hunger.
»Du mußt etwas essen«, sagte Tom sanft, hob ihn auf und ließ ihn auf einen Stuhl neben Unserer-Jane plumpsen. »Wenn du nichts ißt, ißt Unsere-Jane nichts, und sie ist schon zu dünn und schwach… Also iß, Keith, und zeig Heavenly, daß dir ihr Essen schmeckt.«
Tag für Tag verging, aber Logan kam nicht wieder. Auch Tom sah ihn nicht mehr im Schulgebäude. Tom war jünger als Logan und daher nicht in der gleichen Klasse.
Zehn Tage nach Logans letztem Besuch erzählte mir Tom:
»Logan ist mit seinen Eltern irgendwohin gegangen.« Tom hatte sich ernsthaft Mühe gegeben herauszufinden, wo Logan geblieben war. »Sein Vater hat ‘ne Aushilfe angestellt, bis er wieder zurück ist. Vielleicht ist jemand aus der Familie
Weitere Kostenlose Bücher