Dunkle Wasser
Aufregung darüber wurde von der Tatsache gedämpft, daß wir nun aufbrachen…
irgendwohin.
»Auf Wiedersehen«, riefen wir einstimmig. Während Tom und Fanny hinauseilten, blieb ich noch zurück. »Großvater«, sagte ich verlegen und betroffen, »es tut mir leid, daß ich dir das antun muß. Ich weiß, daß es nicht richtig ist, dich allein zu lassen, aber wir müssen es tun, sonst werden wir noch wie Keith und Unsere-Jane verkauft. Bitte, versteh uns.«
Er starrte vor sich hin, in der einen Hand hielt er ein Messer, in der anderen ein Stück Holz, seine dünnen Haare bewegten sich leicht im Wind. »Wenn wir erwachsen geworden sind und Vater uns nicht mehr verkaufen kann, kommen wir wieder.«
»Ist schon gut, Kind«, flüsterte Großvater mit gesenktem Kopf, so daß ich seine Tränen nicht sehen konnte. »Paß auf dich auf.«
»Ich hab’ dich lieb, Großvater. Ich hab’s vielleicht noch nie zu dir gesagt, ich weiß auch nicht warum, aber es ist so.«
Ich trat auf ihn zu und umarmte und küßte ihn. Er roch säuerlich und fühlte sich zerbrechlich an. »Wir würden dich nicht verlassen, wenn wir einen Ausweg wüßten, aber wir müssen einen besseren Ort für uns finden.« Wieder lächelte er mit Tränen in den Augen, nickte mir zu, als schenkte er meinen Worten Glauben und schaukelte weiter. »Luke wird bald mit was zu essen zurückkommen – mach dir da keine Sorgen. Verzeih mir, daß ich dir böse Sachen gesagt hab’, ich hab’ es nicht so gemeint.«
»Was hast du denn für böse Sachen gesagt?« donnerte eine Stimme durch die offene Tür.
10. KAPITEL
WIR NEHMEN ABSCHIED
Vater stand in der Tür und blickte uns finster an. Er trug eine dicke rote Jacke, die ihm bis an die Hüften reichte. Nagelneu!
Seine Stiefel waren von so guter Qualität, wie ich sie noch nie an ihm gesehen hatte und seine Hose auch. Seine pelzgefütterte Mütze hatte Ohrenschützer. Unter dem Arm trug er etliche Essenpakete. »Bin zurück«, sagte er beiläufig, als wäre er gerade erst gestern fortgegangen. »Hab’ was zu essen mitgebracht.« Dann wandte er sich zum Gehen – zumindest dachte ich das.
Er legte den Weg zwischen Lieferwagen und Hütte mehrmals zurück, um alle Sachen zu holen. Was nützte es, wenn wir jetzt davonliefen? Er konnte uns jederzeit mit seinen langen Beinen einholen – wenn er nicht sogar mit dem Transporter hinter uns herfahren würde.
Zudem wollte Fanny nun nicht mehr fliehen. »Vater«, schrie sie überglücklich und tanzte um ihn herum und versuchte, ihn zu küssen und zu umarmen, bevor er noch alles abgeladen hatte.
Immer wieder wollte sie ihm in die Arme fallen, bis es ihr schließlich gelang. »Vater, du bist zurückgekommen und hast uns wieder gerettet! Wußt’ ich’s doch, wußt’ doch, daß du mich magst! Nu’ müssen wir nicht mehr abhauen! Gefroren und gehungert haben wir, und wir wollten Essen suchen oder stehlen, wollten warten, bis der Schnee schmilzt und die Brücke wieder steht. Bin ja so froh, daß wir das alles nu’ nicht mehr machen müssen.«
»Weglaufen, um Essen zu suchen, was?« fragte Vater mit zusammengekniffenem Mund und schmalen Augen. »Ihr kommt nirgendwohin, wo ich euch nicht finden tu’. Setzt euch hin und eßt. Dann bereitet euch für’n Besuch vor.«
Also wieder!
Fannys Gesicht leuchtete auf, als hätte man eine Lampe angeknipst. »Vater, diesmal bin doch ich dran, nicht? Nicht wahr? Bitte, laß es mich sein.«
»Mach dich fertig, Fanny«, befahl Vater und ließ sich in einen Stuhl fallen, daß er fast nach unten kippte. »Hab’ dir neue Eltern ausgesucht, wie du mich gebeten hast, und genauso reich wie die von Keith und Unserer-Jane.«
Fanny quietschte vor Vergnügen, als sie das hörte. Sie beeilte sich, Wasser auf dem Ofen aufzusetzen. Dann holte sie eine alte Aluminiumwanne hervor, die wir als Badewanne benutzten. »Ach, ich brauch’ schönere Kleider!« jammerte Fanny, während das Wasser heiß wurde. »Heaven, kannst du mir nicht’n Kleid von dir geben, das mir steht?«
»Ich werde nichts dafür tun, daß du uns verlassen kannst«, sagte ich mit eiskalter Stimme, während mir die heißen Tränen in den Augen standen. Fanny kümmerte sich wenig darum, daß sie ihren Eid gebrochen hatte und von uns weggehen wollte.
»Tom, hol mir noch Wasser«, trällerte sie, »ich brauch’
genug Wasser, um die Wanne voll zu machen und meine Haare zu waschen!« Widerstrebend erfüllte Tom ihren Wunsch.
Vielleicht konnte Vater meine Gedanken lesen. Er sah
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