Dunkle Wasser
Sachen immer merken – ich mir nie.
Jetzt waren die Kleinen, um die ich mich immer gesorgt und gekümmert hatte, fort. Kein Wimmern mehr in der Nacht, keine benäßten Betten und Decken in der Frühe, nicht mehr so viel Wäsche zu waschen, aber mehr Platz im Messingbett.
Wie leer mir unsere kleine Hütte vorkam, und wie traurig waren die Stunden und Tage, nachdem Unsere-Jane und Keith fort waren. Vielleicht würde es ihnen in Zukunft bessergehen –
zumal die Leute einen reichen Eindruck gemacht hatten. Aber was geschah jetzt mit uns? War denn die Liebe nichts wert?
War es denn nicht die Blutsverwandtschaft, die untereinander verband, und nicht das Geld?
»Großvater«, sagte ich mit meiner immer noch heiseren Stimme, »wir haben jetzt im Bett genug Platz für dich.«
»Ist nicht gesund und gehört sich nicht, die Alten zu den Jungen zu legen«, brummelte Großvater wiederholt vor sich hin. Seine Hände zitterten, als litte er an einem uralten Schmerz. Seine wäßrigen, alten Augen flehten mich um Verständnis an. »Luke ist ‘n guter Junge, Mädchen, glaub’s. Er meinte es gut. Du weißt es aber nicht. Er wollt’ helfen, das war alles. Solltest nicht schlecht über deinen Vater denken, hat das getan, was er für’s Beste gehalten hat.«
»Großvater, du sagst ja immer etwas Gutes über ihn, egal was er tut, weil er dein Sohn ist, und der einzige, der dir noch geblieben ist. Aber von heute an ist er nicht mehr mein Vater!
Ich werde ihn nicht mehr Vater nennen. Er ist für mich Luke Casteel, ein häßlicher, gemeiner Lügner. Eines Tages wird er für alles, was er uns angetan hat, büßen. Ich hass’ ihn, Großvater, ich verabscheue seine Visage! Ich hasse ihn so, daß mir ganz schlecht wird!«
Großvaters armes, verwittertes Antlitz wurde kreidebleich, obwohl sein zerknittertes Gesicht sowieso immer blaß und kränklich aussah – dabei war er noch gar nicht so alt. »Im Buch der Bücher aber steht, du sollst Vater und Mutter ehren… Vergiß das nicht, Heaven, mein Kind.«
»Und warum steht nicht im Buch der Bücher, du sollst deine Kinder ehren? Warum nicht, Großvater?«
Wieder kam ein Sturm auf, und es schneite so heftig, daß sich die Schneemassen bis zu unserem Fenster türmten und die Veranda bedeckten. Eine Eisschicht versperrte uns die Sicht durch die billigen Fensterscheiben. Gott sei Dank hatte Vater uns Nahrungsmittel gebracht, die für ein paar Tage reichen würden.
Ohne das fröhliche Gezwitscher Unserer-Jane und die Sanftmut von Keith herrschte Trübsal in unserer Hütte. Ich vergaß, wieviel Sorgen und Mühe Unsere-Jane mir bereitet hatte mit ihren heftigen Bauchschmerzen, die man kaum lindern konnte. Ich erinnerte mich nur an ihren jungen, zarten Körper, an ihren süßen Nacken, wo die Locken feucht wurden, wenn sie schlief. Eng umschlungen, die Augen geschlossen, hatten sie und Keith im Schlaf wie zwei Engel ausgesehen; ich erinnerte mich an Keith, wie er sich gerne in den Schlaf wiegen und sich wohl tausendmal die gleichen Gute-Nacht-Geschichten vorlesen ließ. Und ich dachte an seine Gute-Nacht-Küsse, seine kräftigen Beine; wieder hörte ich, wie er mit leiser Stimme vor dem Schlafengehen betete, sah, wie Unsere-Jane neben ihm kniete, beide barfuß, ihre kleinen rosa Zehen fest angezogen. Nie hatten sie richtige Schlafanzüge besessen. Ich weinte, mir ging es immer schlechter, ich war zornig und aufgebracht; jede Erinnerung verwandelte sich in eine Pistolenkugel, mit der ich früher oder später den Mann erschießen wollte, der mir so viel genommen hatte.
Unser armer Großvater verlor nun endgültig die Fähigkeit zu sprechen. Er war jetzt wieder genauso stumm wie zu Großmutters Lebzeiten; er schnitzte nicht mehr, spielte nicht auf der Geige, er starrte nur ins Leere und schaukelte hin und her. Hie und da murmelte er ein Gebet vor sich hin, das jedoch niemals erhört wurde.
Wie alle unsere Gebete niemals erhört wurden.
In meinen Träumen sah ich Unsere-Jane und Keith, wie sie aufwachten und sie das schönste und glücklichste Weihnachtsfest erwartete. Ich sah sie in hübschen, roten Nachtgewändern aus Flanell, wie sie in einem eleganten Wohnzimmer spielten, in dem ein riesiger Weihnachtsbaum stand, unter dem unzählige Spielsachen und Kleider lagen. Ich lachte vor Freude im Traum, während Unsere-Jane und Keith im Zimmer herumsausten, die Geschenkpakete öffneten, mit Spielzeugautos fuhren; Unsere-Jane, klein wie sie war, kroch in ein Puppenhaus; lange, bunte Strümpfe
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