Dunkle Wasser in Florenz - Roman: Dunkle Wasser in Florenz
mehreren Stellen. Nichts an seinem Gesichtsausdruck ließ erkennen, dass nur wenige Zentimeter unter seiner Nase ein schier unerträglicher Gestank aufstieg. Er drehte den Körper auf den Rücken und tastete ihn weiter ab, wobei er ihn aufmerksam musterte. Piras und der Kommissar standen ein paar Schritte neben ihm und warteten ungeduldig darauf, etwas zu erfahren.
Kurz darauf stand der Arzt wieder auf. Er legte die Handschuhe und das Handtuch in eine Plastiktüte und steckte sie in seine Tasche. Plötzlich hatte er sein schwarzes Notizbuch in der Hand. Er schrieb etwas hinein und ließ es dann wieder in seiner Tasche verschwinden. Casini ging zu ihm.
»Erwürgt?«
»Nicht nur das …«
»Wie meinst du das?«
»Zuerst wurde er missbraucht«, sagte der Arzt. Casini sah zu Piras hinüber.
»Seit wie vielen Tagen ist er tot?«, fragte er.
»Auf den ersten Blick drei oder vier.«
»Ich hoffe, du irrst dich. Ich will mir nicht vorstellen, dass er die ganze Zeit in den Händen eines Ungeheuers gewesen ist.«
»Wer weiß, was er alles durchgemacht hat«, sagte der Gerichtsmediziner finster. Er wäre auch gleichmütig geblieben, wenn er an sich selbst eine Autopsie durchgeführt hätte, aber tote Kinder schlugen ihm aufs Gemüt. Casini zündete sich eine Zigarette an.
»Kannst du mir noch etwas sagen?«
»Du musst die Autopsie abwarten.«
»Gehst du gleich wieder?«
»Ich bleibe noch einen Moment … Gib mir mal eine Zigarette«, sagte Diotivede. Der Kommissar hatte ihn nur bei ganz seltenen Gelegenheiten rauchen gesehen, und jedes Mal kam es ihm irgendwie merkwürdig vor. Er hielt ihm das Päckchen hin und gab ihm Feuer. Der Arzt nahm einen tiefen Zug und stieg nachdenklich weiter den Hügel hinauf, während die Tasche an seiner Seite baumelte. Casini ging zu Calosi und Tapinassi, die bleicher waren als der tote Junge.
»Ruft im Leichenschauhaus an, sie sollen einen Wagen schicken, und nehmt den armen Kerl hier gleich mit«, sagte er und deutete auf den Jäger.
»Und der Hund?«, fragte Tapinassi.
»Den nehmt ihr auch mit, das ist am einfachsten.«
»Ja, Dottore.« Calosi und Tapinassi gaben dem Jäger ein Zeichen und machten sich dann, gefolgt von dem Hund, an den Abstieg.
Piras hatte sich den Fotoapparat geben lassen. Nachdem er noch ein paar Aufnahmen gemacht hatte, blieb er stehen und starrte die Leiche des Jungen an, mit einem Blick, der einer sardischen Blutfehde würdig gewesen wäre. Die Stadt war weit weg. Die Stadt, aus der der Junge spurlos verschwunden war. Endlich waren sie einen Schritt weiter: Sie hatten die Leiche gefunden, aber wenn sich jetzt nicht Neues ergab, waren sie erneut an einem toten Punkt angelangt.
Der Kommissar schaute sich nach Diotivede um. Er sah ihn etwa fünfzig Meter weiter oben reglos zwischen den Bäumen stehen, wo er mit vor der Brust verschränkten Armen und der Tasche in der Hand ins Leere starrte. Er stand da, als würde er für einen Bildhauer posieren. Langsam ging der Kommissar zu ihm.
»Jetzt brauchen wir ein Quäntchen Glück«, sagte er.
»Hoffen wir, dass nicht dasselbe passiert wie vor zwei Jahren …«, meinte der Arzt leise. Im Frühling 1964 waren vier Mädchen umgebracht worden, ehe man den Täter dingfest machen konnte. Diese Monate waren die Hölle gewesen.
Hoch oben in den Bäumen hörte man einen Vogel krächzen, und alle sahen hinauf, um ihn zu entdecken.
»Gib mir noch eine Zigarette«, grummelte Diotivede. Der Kommissar zündete sich auch noch eine an und ließ das Streichholz auf den Boden fallen. Zwischen den Blättern schaute ein großer Pilz hervor. Vielleicht war es ja ein Steinpilz.
Nachdem er sich gemeinsam mit Inzipone den Journalisten gestellt hatte, zog sich Casini mit Piras in sein Büro zurück. Es war schon fast vier Uhr, und sie hatten noch nichts gegessen.
Casini fuhr sich langsam mit der Hand über das Gesicht, in dem schon wieder die Bartstoppeln sprossen, und dachte darüber nach, was für einen Vormittag er hinter sich hatte. Gegen elf war er in die Via Barbacane aufgebrochen, um mit den Eltern des Jungen zu sprechen. Er hatte allein dorthin gewollt. Er hatte gesehen, wie Giacomos Mutter wie ein leerer Sack in sich zusammenfiel, und war ihr mit ihrem Mann zu Hilfe gekommen. Die Vergewaltigung hatte er nicht erwähnt, das war nicht nötig. Er war eine gute halbe Stunde bei den Pellissaris geblieben. Bevor er aufgebrochen war, hatte er ihnen noch ganz banal geschworen, dass er den Mörder fassen würde, um den beiden
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