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Dunkle Wasser in Florenz - Roman: Dunkle Wasser in Florenz

Dunkle Wasser in Florenz - Roman: Dunkle Wasser in Florenz

Titel: Dunkle Wasser in Florenz - Roman: Dunkle Wasser in Florenz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marco Vichi
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das durch die Straßen floss. In der Luft hing ein ekelerregender Gestank, und viele Leute banden sich Taschentücher oder Schals bis zu den Augen vor das Gesicht.
    Um fünf Uhr wurde es am Himmel allmählich etwas heller, und die Leute an den Fenstern warfen immer wieder lange Blicke nach oben. Die auf den Dächern kauernden Menschen sahen aus wie große, verängstigte Vögel. Im düsteren Licht des Sonnenuntergangs war dieser Schlammstrom ein schrecklicher Anblick, man wurde unwillkürlich an die Höllenflüsse Dantes erinnert: Vom Felse geht ihr Lauf zu diesen Gründen und bildet Acheron, Styx, Phlegethon …
    Kurz darauf war es völlig dunkel. Auf vielen Fensterbrettern leuchteten nun die Flämmchen Dutzender Kerzen, und die Häuserreihe sah aus wie die Grabnischenwand eines riesigen Friedhofs. Die Schlammflut wurde langsamer, schwappte jetzt sanft gegen die Hausmauern. Plötzlich hielt sie inne, und über das Viertel senkte sich eine Grabesstille. Die gleiche bedrückende Stille, wie sie Casini in manchen Winternächten im Krieg erlebt hatte.
    Er steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen, aber er zündete sie erst an, als er merkte, dass er es nicht mehr länger aushielt. Es war seine vorletzte. An den Gestank nach Heizöl und Abwasser hatte er sich allmählich gewöhnt. Er ertrug es nur schwer, hier untätig am Fenster zu stehen. Wie hektisch mochte es jetzt im Präsidium, in der Zentrale der Verkehrspolizei, in den Stützpunkten der Carabinieri und der Feuerwehr, beim Generalkommando der Armee, in der Präfektur und im Palazzo Vecchio zugehen? Und er saß hier in seiner Wohnung fest und konnte nur tatenlos zusehen, war ohne Wasser, Strom und Telefon.
    Casini ließ den Zigarettenstummel fallen und folgte ihm mit dem Blick, bis das Wasser ihn verschluckte. Dann schloss er das Fenster. Mit der Taschenlampe in der Hand ging er hinaus ins Treppenhaus. Er richtete den Lichtstrahl in den Treppenschacht, und das Licht fiel auf die reglose Oberfläche der schlammigen Brühe. Es führte kein Weg hinaus, er fühlte sich wie die Maus in der Falle. Casini ging ein Stockwerk tiefer und klopfte bei den Maccianti. Dort öffnete ihm der Ehemann, in einer alten Jacke, mit einer Kerze in der Hand. Um seine Augen lagen tiefe Schatten, und er hatte Bartstoppeln. Bestimmt hatte das Hochwasser seine kleine Werkstatt in der Via dell’Orto komplett zerstört.
    »Hätten Sie vielleicht eine Kerze für mich übrig?«, fragte Casini.
    »Kommen Sie …«, meinte Maccianti düster. Er war ein kleiner Mann mit spärlichem Haarwuchs und einem birnenförmigen Kopf, der immer schwach nach Motoröl roch. Casini folgte ihm in ein mit alten Möbeln aus dunklem Holz eingerichtetes Wohnzimmer. Dort brannten einige Kerzen. Macciantis Frau und die beiden Kinder standen vor dem Fenster und hielten einander fest umklammert. Um den Esstisch saßen die Nachbarn aus dem ersten Stock, ein Arbeiter in Rente mit Frau und Schwiegermutter. Casini grüßte sie, und sie nickten stumm zurück. In einer dunklen Ecke konnte man zwei große Koffer ausmachen, die prall gefüllt waren wie bei Auswanderern nach Amerika. Maccianti kramte in einer Schublade.
    »Die kann ich Ihnen geben«, sagte er leise und reichte Casini zwei Kerzen.
    »Vielen Dank, das ist mehr, als ich mir erhofft habe«, sagte der Kommissar erleichtert. Noch einige Stunden zuvor waren ein paar Kerzen kaum etwas wert gewesen, aber die reißende Flut des Arno hatten alles auf den Kopf gestellt.
    »Meine Frau kauft sie schachtelweise, für die Madonnenstatue bei uns im Zimmer«, erklärte Maccianti.
    »Falls nötig, habe ich ein freies Zimmer und ein Sofa zum Übernachten«, sagte Casini. Er verabschiedete sich und kehrte in seine Wohnung zurück. Sein Magen knurrte, schließlich hatte er beinahe einen Tag lang nichts zu sich genommen. Auf der Suche nach etwas Essbarem ging er in die Küche. Dort fand er nicht mehr als ein kleines Stück Pecorinokäse, einen Kanten altes Brot und eine halbgeleerte Packung Kekse. Auf seinem Nachttisch stand noch eine Flasche Mineralwasser. Ohne die konnte er nicht einschlafen. Er aß im Stehen; die Taschenlampe hatte er auf dem Tisch abgelegt. Als er an die armen Leute dachte, die alles verloren hatten, kam er sich geradezu wie ein Glückspilz vor. Noch am Vortag war es eher lästig gewesen, in den oberen Stockwerken eines Hauses ohne Aufzug zu wohnen.
    Er ging ins Schlafzimmer zurück, zündete beide Kerzen an und legte sich in seinen Kleidern hin. Die Flammen

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