Dunkle Wasser in Florenz - Roman: Dunkle Wasser in Florenz
Kuss auf die Wange, bevor er sich wieder auf den Weg machte. Er lief einfach vorwärts, ohne ein genaues Ziel vor Augen zu haben, schlängelte sich in der Via de’ Benci zwischen Autowracks hindurch und kam dann auf den Lungarno. Das Wasser im Fluss stand niedrig, ein sympathisches Bächlein, das ruhig dem Tyrrhenischen Meer entgegenfloss. Kaum vorstellbar, dass erst wenige Stunden zuvor …
Casini wandte sich nach rechts und ging zur Nationalbibliothek. Die Uferbrüstung an der Piazza dei Cavalleggeri war gebrochen, und das ganze Viertel war abgesperrt. Er zeigte seinen Ausweis vor und passierte den Militärposten. Die jungen Freiwilligen, die aus ganz Italien und der Welt herbeigeeilt waren, arbeiteten ohne Unterlass. Blutjunge waren darunter, fast noch Kinder. Sie reichten sich die dicken Bücher weiter, aus denen der Schlamm tropfte, und luden sie auf die Lastwagen der Armee. Von Kopf bis Fuß dreckverkrustet, konnte man manchmal Männer kaum von Frauen unterscheiden.
Casini machte kehrt, und nachdem er den Ponte alle Grazie überquert hatte, wandte er sich nach links. In der Via dei Renai versank man immer noch bis zu den Knien im Schlamm, und rein aus Gewohnheit schaute er nach oben zu dem Heizölstreifen. Das Wasser war hier bis über den ersten Stock gestiegen. Zusammen mit Santa Croce war dies wohl das am tiefsten gelegene Viertel von Florenz, »in buca« – »im Loch«, wie es die Florentiner nannten.
Er bog um die Ecke und kam dann an der Kirche San Niccolò heraus. Die Bewohner des Viertels und einige Studenten räumten aus den Häusern und Geschäften alles, was unbrauchbar geworden war, heraus. Die kaputten Möbel, Tische, Stühle, Regale, alles, was aus Holz war, wurde hinter Porta San Miniato aufgestapelt. Ein Mann mit dunklen Schatten um seine großen hellblauen Augen schleppte mühsam eine Bank aus der Kirche, ein junger, magerer Kerl half ihm dabei, aber er konnte sich kaum noch auf den Beinen halten.
»Braucht ihr vielleicht noch eine Hand?« Casini kam näher.
»Ein Kran würde schon reichen«, sagte der Mann und zwinkerte verschmitzt. Casini trug gemeinsam mit ihm die Bank die Steigung hoch. Der Mann mit den blauen Augen hatte einen weißen Kragen unter der Jacke, und Casini begriff, dass er ein Priester war. Sie stellten die Bank zu dem anderen Holzabfall.
»Am Abend können wir damit ein Feuer machen, wir schlafen im Freien«, sagte der Priester und stellte sich vor. Er hieß Don Baldesi und war der Gemeindepfarrer. Casini schüttelte ihm die Hand.
»Angenehm, Commissario Casini. Was braucht ihr denn am nötigsten?«
»Wir waren schon ein paarmal am Campo di Marte, aber es reicht nie. Uns fehlt es an allem: Brot, Wasser, Decken und jede Art von Medikamenten.«
»Sobald ich kann, versuche ich, euch einen Laster vorbeizuschicken.«
»Ich werde dem Heiligen Petrus Bescheid geben, dass er Ihnen ein paar Wochen Fegefeuer erlässt.«
»Das ist nicht nötig, vielleicht fahre ich gleich in die Hölle hinab.« Casini lächelte. Gemeinsam mit dem Priester ging er zur Kirche zurück und überlegte gerade, zu Fuß zum Campo di Marte zurückzukehren, als jemand aus einer Haustür trat, den er hier zuallerletzt erwartet hätte, und gleichzeitig verspürte er einen Stich ins Herz: Gemeinsam mit einem großen jungen Mann, der ein ebenmäßiges Gesicht hatte, aber missmutig schaute, trug die Verkäuferin aus der Via Pacinotti eine verdreckte Matratze heraus. Sie hatte Jeans, Gummistiefel und eine Jacke an, die ihr zu weit war. Die junge Frau ging an ihm vorbei, nahm aber seinen sehnsuchtsvollen Blick nicht wahr und bemerkte ihn nicht.
Als der Kommissar vor der Kirche ankam, hatte er weiche Knie wie ein junger Kerl, der zum ersten Mal verliebt ist. Doch als er ihr nachschauen wollte, war sie schon verschwunden. Er sagte Don Baldesi, dass er sich sofort zum Campo di Marte aufmachen würde, um Lebensmittel und Medikamente aufzutreiben, verabschiedete sich und ging, ohne sich umzuwenden. Sobald er um die Ecke gebogen war, zündete er sich eine Zigarette an. Er war so aufgeregt, dass er die Anstrengung nicht mehr spürte. Wieder einmal hatte das Schicksal eine Überraschung für ihn parat, aber er wusste noch nicht, ob er sie als Geschenk oder Gemeinheit ansehen sollte. Wer zum Teufel war der argwöhnische junge Mann? Ihr Verlobter? Besser, er vergaß das Ganze. Mit sechsundfünfzig Jahren konnte er ganz sicher nicht mit einem so gutaussehenden, jungen Kerl konkurrieren.
Auf dem Lungarno wandte er
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