Dunkle Wasser in Florenz - Roman: Roman
Lied zu Zeiten des Duce gehört, und das schien ihm jetzt hundert Jahre her zu sein. In diesem Augenblick wirkte der Krieg genauso weit entfernt, fast wie ein Traum. Andere Male fühlte er ihn auf sich lasten, als wäre seither nur ein Tag vergangen. Doch jetzt wollte er nicht an den Krieg denken …
Er überquerte den Ponte Santa Trinita, in der Hoffnung, einen Film zu finden, der zu seiner Stimmung passte. Im Zentrum war viel los. Fußgänger, Radfahrer, Leute auf Motorrollern, in Autos, Gruppen von jungen Leuten, Pärchen, Ehepaare – alle in der guten Stube der Stadt unterwegs. In der Via degli Strozzi staute sich der Verkehr. Die Autoschlange kam nur im Schritttempo vorwärts, und die Luft stank nach Abgasen. Die vielen Menschen stimmten ihn nicht fröhlich, im Gegenteil, sie erinnerten ihn an seine Einsamkeit. Doch es steckte mehr dahinter, er konnte sich selbst nicht belügen: Ihm gefiel dieses Italien nicht. Er liebte es irgendwie, aber es gefiel ihm nicht. Er liebte es trotz allem, aber es gefiel ihm nicht. Dieses verdorbene Italien von vor dem Krieg und das Nachkriegsitalien mit seinen Träumen vom Wohlstand. Das Italien mit seinen Menschenmassen, die auf der Piazza Venezia den Reden Mussolinis frenetisch zugejubelt hatten und auf dem Piazzale Loreto den Duce und seine Geliebte Clara Petacchi an den Füßen aufgehängt und bestialisch zugerichtet hatten. Vielleicht waren das ja nur die trüben Gedanken eines verbitterten alten Mannes, dachte er und warf seufzend die Kippe weg.
Nun war er auf der Piazza della Repubblica mit ihren protzigen Gebäuden angelangt. Der Platz war voller Autos, elegant gekleideter Männer und Frauen mit kleinen Hüten. Er sah nach, was in den beiden Kinos unter den Arkaden auf dem Programm stand. Im Edison gab es »Schlacht um Algier« und im Gambrinus »Zwei glorreiche Halunken«. Da er dringend Entspannung brauchte, entschied er sich für den Western. Bevor er das Kino betrat, ging er ins Cafè Giubbe Rosse, um im Präsidium anzurufen, und nutzte die Gelegenheit, um vorher noch einen Espresso zu trinken. Dann fragte er Tapinassi, ob es etwas Neues über Panerai gab.
Keine Auffälligkeiten, der Metzger war um acht Uhr vierzig nach Hause gekommen und hatte die Wohnung nicht mehr verlassen.
Während Casini auf das Kino zuging, spielte er mit dem Päckchen Zigaretten in seiner Tasche. Als er die Mitte des Platzes erreicht hatte, kam ihm wie ein Traumbild eine alte Liebe entgegen. Das Ganze war mindestens zehn Jahre her, aber sie sah immer noch wie ein junges Mädchen aus. Sie ging Arm in Arm mit einem hochgewachsenen, vornehm wirkenden, blassen Herrn und kicherte. Ihre Blicke begegneten einander kurz, ihre Pupillen weiteten sich ein wenig, dann ging sie weiter und tat so, als hätte sie ihn nicht gesehen. Casini drehte sich um, um ihr nachzusehen, und mit einem unerwarteten Anflug von Eifersucht fragte er sich, wie eine Frau sich nur so unterschiedliche Männer aussuchen konnte.
Er betrat das Kino und ging zum Rang hinauf, weil er hoffte, dort weniger Leute anzutreffen. Das Licht im Saal war gerade erloschen, und er musste sich anstrengen, in der Dunkelheit einen freien Sitz zu finden, auf den er sich dann keuchend fallen ließ. Ein Frauenparfüm stieg ihm in die Nase, und im Halbdunkel erkannte er das schöne Profil eines jungen Mädchens neben ihm. Das sollte er lieber vergessen, wenn er den Film genießen wollte.
Dann begann die Wochenschau: die neuen Modelle im Autosalon von Turin, lächelnde Filmschauspieler, Motorradrennen, der wirtschaftliche Aufschwung, das schöne Italien, das nach vorn schaute und in einem Wohlstand schwelgte, den es nicht besaß. Auch die Werbung zeigte heile Welten, in denen das Leben bequem und fröhlich war, alle Frauen wunderschön waren und alle Familien glücklich. So musste man ein armes Land regieren, indem man es zum Träumen brachte.
Schließlich begann der Film, und bei den Zweikämpfen und Schießereien gelang es Casini endlich abzuschalten. Dann endete der erste Teil. Sobald die Lichter angingen, erhob sich im Kino ein gedämpftes Gemurmel. Der Kommissar wandte sich dem jungen Mädchen zu. Es war schön, hatte dunkle Haare und ein hübsches kleines Näschen, was ihn automatisch an die Worte der Wahrsagerin Amelia erinnerte: »Sehr bald werden Sie eine junge dunkelhaarige Signorina kennenlernen …«
Neben ihr saß noch eine junge Frau mit kastanienbraunen Locken. Beide trugen schwindelerregend kurze Miniröcke. Casini betrachtete
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