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Dunkle Wasser

Dunkle Wasser

Titel: Dunkle Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Jane Beaufrand
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das macht mich krank«, sagte sie und drückte eine Taste an dem Walkie-Talkie, das an ihrem Kragen hing.
    Ihr Deputy, ein Kerl mit breitem Kreuz und Fu-Man-Chu-Schnurrbart, kam zu Ranger Dave und mir herüber. »Wer von Ihnen hat die Tote gefunden?«, fragte er. Seine laute, autoritäre Stimme hätte mir Angst eingejagt, wenn mir noch irgendetwas hätte Angst einjagen können.
    »Ronnie«, sagte Ranger Dave.
    Dann tat der unheimliche Mann etwas, womit ich nicht gerechnet hatte. Er zog seinen durchsichtigen Regenmantel aus und legte ihn mir um die Schultern. Das konnte mich zwar nicht mehr trocken halten – ich war schon nass bis auf die Haut –, aber es war eine nette Geste. »Tut mir leid, dass du das sehen musstest, Kleine. Du musst noch ein Weilchen hierbleiben, damit wir dir ein paar Fragen stellen können.«
    Ich mag es nicht, wenn man mich ›Kleine‹ nennt. Das finde ich herablassend. Aber so, wie der Mann es sagte, fühlte ich mich eingehüllt, wie in eine Decke. »Danke«, sagte ich.
    Dann kamen die Gaffer. Sie mussten die Sirenen gehört haben und aus ihren Löchern hervorgekrochen sein. Ich hatte keine Ahnung, dass die Stadt so viele Einwohner hatte. Blasse Gesichter, Blümchenmuster, Karo, Jeans. Jede Menge Jeans. Ich erkannte die Mutter von Casey Burns, in Flanellnachthemd und Gummistiefeln, die sich gegen den Regen eine Jacke über den Kopf hielt. Sie winkte mich zusich herüber, doch ich tat, als sähe ich sie nicht. In diesem Augenblick hasste ich sie, hasste sie alle, wie sie mit den Fingern zeigten und die Köpfe schüttelten. Nicht einem von ihnen würde ich zutrauen, dass er mich durch die Wildnis führt.
    Dann sperrten Sheriff McGarry und ihr Deputy alles mit gelbem Klebeband ab und pferchten die Menge ein wie Vieh. Ein dunkelblauer Geländewagen, auf dem
Santiam County Coroner
stand, kam an. Der Leichenbeschauer.
    Jemand drückte mir einen Styroporbecher mit Kaffee in die Hand. Daran merkte ich, dass Tiny auch da war. Keiner kochte eine schlimmere Brühe als er. Noch nicht mal er selbst konnte sie trinken – er nannte es Espresso und berechnete Urlaubern fünf Dollar pro Becher. Ranger Dave winkte und lächelte ihm kurz zu, aber ich schaute einfach weg. Ich hatte heute Morgen schon genug gesehen.
    Doch an den nächsten Teil kann ich mich noch genau erinnern: Der Pick-up der Armstrongs hielt an und Mr Armstrong stieg aus.
    »Was ist los?« Er stürmte auf das gelbe Klebeband zu.
    »Sir«, sagte der Deputy, der mir seinen Mantel gegeben hatte, »bitte begeben Sie sich zurück in Ihr Fahrzeug und fahren Sie nach Hause, damit wir unsere Arbeit tun können.«
    »Welche Arbeit?«, fragte er. »Was ist passiert? Wir vermissen unsere kleine Tochter, und jemand hat gemeint, sie ist vielleicht hier.«
    Der Deputy sah zu mir. Ich nickte.
    Er wandte sich wieder an Mr Armstrong. »Fahren Sie nach Hause, Sir«, sagte er mit seiner Angst einflößenden, autoritären Stimme. »Wir melden uns bei Ihnen.«
    »Ronnie«, sagte Mr Armstrong, als er mich entdeckte. »Was ist denn los? Sag doch: Wie viele Stiche braucht sie diesmal?« Er versuchte zu lächeln, doch seine Augen glänzten feucht. Er brauchte etwas Beruhigendes, eine Boje, an der er sich festhalten konnte, aber ich konnte ihm nichts geben.
    Vielleicht bemerkte er in dem Moment den Wagen des Leichenbeschauers, denn er wurde aggressiv. »Lassen Sie mich durch«, sagte er zu dem Polizisten. »Ich will es sehen. Ich muss es sehen.«
    »Bitte, Sir, nicht hier«, beharrte der Polizist.
    Ich schüttelte den müllsackartigen Regenmantel ab, marschierte zu Mr Armstrong und schloss die Arme um ihn, wie Ranger Dave es zuvor bei mir getan hatte. Erst wollte Mr Armstrong mich von sich stoßen. »Geh weg«, sagte er. »Du bist nicht meine Tochter. Du bist nicht Karen. Hol mir Karen her.«
    Doch er rührte sich nicht von der Stelle, und schließlich sank er in meine Arme, von mehr als nur Schluchzern geschüttelt. Es war, als würden Teile seiner selbst wegbrechen und wie eine Uferböschung einfach davongespült werden.
    Hinter uns schrie noch immer der Fluss; um uns herum hingen so dicke Wolken, dass wir kaum sehen konnten. Das war mir nur recht. Gesichter und Stimmen verschwammen.
Sir, treten Sie bitte aus dem Weg, Sir
.
    Ich weiß nicht, wie lange ich Mr Armstrong stützte. Bald war er genauso nass wie ich. Ranger Dave bot uns an, mit in die Forststation zu kommen, doch wir wollten beide nicht mit. Stattdessen blieben wir draußen, wo sich ein Himmel aus

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