Dunkle Wasser
Und dann das ganze Waffenlager. Eine Kalaschnikow im Wandschrank. Pistolen, Schrotflinten …« Er warf die Arme über den Kopf, alswäre er von den Waffen umzingelt und könnte sich nur noch ergeben. Dann sackte er in sich zusammen wie ein zerknülltes Taschentuch. »Verdammt«, murmelte er. »In dem Haus waren kleine Kinder. Kinder, für die er mit meiner Hilfe das Sorgerecht bekommen hat.«
Vieles an seiner kleinen Schimpftirade verstand ich nicht. Dass er wegen der Schusswaffen so hochging, kapierte ich ja, aber Bleiche? Rattengift? War der Besitz davon wirklich strafbar? Was, wenn der Kerl einfach bloß Ratten und Kalkflecken beseitigen wollte?
Mom schaute zu mir und dann wieder weg. Es war nur ein flüchtiger, aber unbedachter Blick. In diesem Moment wirkte sie nicht berühmt und selbstbewusst, sondern müde und alt. Dann hantierte sie weiter. Das Backen ging ihr leicht von der Hand – kneten, Teigzöpfe flechten, glasieren –, aber meinen Vater konnte sie nur mit allergrößter Mühe davor bewahren, zu einem Scherbenhaufen zu zerbrechen.
Die beiden so zu sehen, hätte für mich ein erster Hinweis darauf sein können, wie mein Leben von nun an aussehen sollte: Dad wie gelähmt von seiner Depression, Mom darum bemüht, mich davon abzuschirmen, aber nicht dazu in der Lage. Sie hatte zu viel um die Ohren. Um mich konnte sie sich nicht auch noch kümmern.
An jenem Morgen saß ich mit Dad zusammen, bis die Sonne schon voll am Himmel stand. Wir sprachen nicht, wir aßen nicht, gingen nicht zur Arbeit und nicht zur Schule.
»Ich jogg eine Runde«, sagte Dad schließlich und stieß sich vom Tisch ab. Er stand auf und warf den weißen Berg von gebrauchten Taschentüchern weg, der sich vor ihm aufgetürmt hatte.
Drei Tage später kam Dad gegen die lauen Einwände von Mom und mir mit unserer neuen ›Pflegefamilie‹, die er seinem letzten Mandanten wieder weggenommen hatte, nach Hause. Wir haben sie nicht richtig in Pflege genommen oder adoptiert. Sie nahmen nicht unseren Namen an, und sie hatten auch immer noch eine Mutter, die ihren Pflichten nachkam – Gloria Inez, eine gute Frau, die jedoch Arbeit brauchte, um eine Aufenthaltserlaubnis zu bekommen, und ihre Kinder Tomás und Esperanza. Da lernte ich, dass unter Dads Definition von einem ›kleinen Kind‹ (»da waren kleine Kinder in dem Haus mit den Schusswaffen«) auch ein muskulöser Teenager von ein Meter achtundneunzig fiel, der einzige Latino, von dem ich je gesehen habe, dass er einen Basketball versenken kann. Esperanza entsprach schon eher meinen Erwartungen. Sie war sieben, hatte große, ängstliche Augen und immer einen Daumen im Mund.
Eine Woche, nachdem sie sich bei uns mit reingequetscht hatten und Zeit im Badezimmer Mangelware wurde, entsann sich Mom, dass sie ein heruntergekommenes Gasthaus an den Ufern des Santiam River geerbt hatte, und wäre es nicht schön, mal rauszukommen? Wir könnten es doch wieder in Schuss bringen. Nur so, dass es sich verkaufen ließ, wir fuhren ja sowieso nie hin.
Doch als wir da waren, erfasste alle außer mir eine schleichende Veränderung. Tomás genoss es, so viel Platz zu haben, dass er sich ausstrecken konnte. Einmal ertappte ich ihn dabei, wie er mit einem seligen Gesichtsausdruck im Wohnzimmer stand und mit den langen Armen wedelte, ohne irgendwo anzustoßen. Er war es, der auf dem Parkplatz einen Basketballkorb anbrachte.
Dad fuhr liebevoll mit den Händen über die hölzernen Treppengeländer mit den Tierschnitzereien (Braunbären, Biber, Fischreiher, Adler) und nahm den vom Regenwasser geschädigten Keller in Besitz, dekorierte ihn mit Schwarzlichtpostern und verwandelte ihn in die
Astro-Lounge
. Die Zapfanlage zu reparieren und sie mit dunklem, schaumigem Porter zu füllen, war das Einzige, was ihn zum Lächeln brachte.
Mom und Gloria Inez machten sich mit Stahlwolle über die Küche her und konnten anscheinend gar nicht genug davon bekommen. Zuerst war das Kochen in der Küche für sie ein Abenteuer – das Brutzeln über dem Holzofen und das Backen von Maisbrot in einer gusseisernen Pfanne. Als es ihnen dann zu unbequem wurde, fingen sie an, neue Edelstahlgeräte zu bestellen und die Küche umzumodeln. Es gab einen Kühlraum, einen Gasherd mit zwölf Flammen und eine Großküchen-Spülmaschine, die so riesig war, dass man praktisch durchfahren konnte.
Selbst die kleine, ängstliche Esperanza war nicht immun gegen den Zauber, den der Ort ausübte. Sie entdeckte das Lager von Patchworkdecken, die
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