Dunkle Wasser
Handy.
»Suchst du das hier?«, fragte Tomás und nahm mein Telefon aus einer Tasche seines Regenumhangs. »Oder vielleicht das?« Aus einer anderen Tasche zog er meinen neuen Pfefferspray-Lippenstift.
Sprachlos blickte ich auf die Sachen.
»Was treibst du überhaupt hier draußen?«
Ich schüttelte abwehrend den Kopf. »Verstehst du ja doch nicht.«
Da überraschte er mich. »Ihr seid immer zusammen hier gewesen. Was willst du denn finden?«
»Ich weiß auch nicht. Irgendwas von ihr wahrscheinlich. Einen Beweis, dass sie hier war.« Am Flussufer und in meinem Leben, meinte ich. Und Tomás schien mich zu verstehen.
»Wie eine Pfeilspitze«, sagte er.
Ich griff nach dem Handy. Vor diesem Anruf hätte ich mich liebend gern gedrückt. Tomás hatte recht – meine Eltern waren bestimmt panisch vor Sorge. Er hielt das Handy fest, wählte eine Nummer und drückte es sich ans Ohr. »Ich hab sie«, hörte ich ihn sagen. »Ja, ihr geht’s gut. Es ist meine Schuld. Ich hatte ihr versprochen, das Ufer mit ihr abzukämmen. Ich hätt’s euch sagen sollen. Wir sind bald wieder da.«
Als er auflegte und mir das Telefon zurückgab, kam es mir so vor, als steckte ich einen meiner Wasserfinger durch die unsichtbare Wand, die zwischen uns stand. Es gab vieles, was ich von Tomás noch nicht wusste, und solange das so blieb, war ich weder seine Schwester noch seine Freundin.
Er nahm seine Taschenlampe und richtete sie auf das Ufer.
»Also, wonach suchen wir?«, sagte er. Und das war’s. Vor uns beiden lag Arbeit. Doch ich dankte einer unbekannten Gottheit (wieder eher im Himmel als direkt vormeiner Nase), dass Tomás derjenige war, der nach mir gesucht hatte. Ich machte ihm Platz und dann schlichen wir um die Wette. Wenn wir ganz langsam gingen, fanden wir vielleicht was.
Es ist ein kühler Herbstabend. Karen und Tomás lungern in der Küche herum und tuscheln über Martinigläsern mit Ceviche, einem Meeresfrüchte-Cocktail in pikanter Tomatensoße. Wir haben spanischen Abend, deshalb gibt es Tapas, salzige Gerichte mit Oliven und Serrano-Schinken, und wenn man davon nicht satt wird, noch pfannenweise Paella, die man mit Krügen voll blutroter Sangria hinunterspülen kann
.
Mom hat einen Gitarrenspieler engagiert, einen Typen mit Pferdeschwanz und grauer Weste, der gerade draußen im Saal ist und seine Finger in Lichtgeschwindigkeit zu temperamentvoll-wehmütigem Klang über die Saiten huschen lässt. Gretchen tanzt eine Art Flamenco auf dem Tisch. Sie kann es nicht richtig, aber sie hat sich einen Rüschenrockangezogen und das Snoopy-Pflaster über ihrem Nasenring entfernt. Kreisend schwankt sie umher, wie der Knethaken in Moms Küchenmaschine. Um sie herum hat sich eine Schar von Zuschauern versammelt, die klatschen
, Jipa!
rufen und mit der Zunge trillern
. Ajajaj!
Hier in der Küche, wo es nach Safran und Kapern riecht, macht Mom uns das Leben schwer, indem sie darauf besteht, dass wir das Ceviche in Martinigläsern servieren. Drei sind mir schon zerbrochen – sie sind so kopflastig, dass sie beim bloßen Vibrieren einer Gitarrensaite kippen. Aber Mom meint, die Stielgläser müssen sein, weil die Garnelen und Tintenfischringe darin edler aussehen, und sie hat recht
.
Karen und Tomás lehnen an einem der Arbeitstische. Mit einem Schwertspießchen aus Plastik fischt Karen Meeresfrüchte aus ihrem Martiniglas. Sie ist nur halb so groß wie Tomás, selbst wenn er krumm steht. Als sie mich kommen sieht, stupst sie ihm an den Oberschenkel und nickt in meine Richtung
.
Na, ihr?, sage ich und lade schmutziges Geschirr in der Spüle ab
.
Das Essen kann raus, sagt Mom
.
Ich belade das Tablett für Tisch sieben
.
He, Ronnie, sagt Tomás und richtet sich zu seiner vollen, taumelnden Größe auf
.
Bemerke ich ihn oder bemerke ich eher, wie Karen ihm fest auf den Fuß tritt? Schwer zu sagen. Es ist nur ein Huschen in meinem Augenwinkel, während ich Teller aufs Tablettstaple und dabei versuche, die Ceviche-Gläser nicht umzustoßen
.
Kommst du Freitag zum Spiel?, fragt Tomás
.
Klar
.
Ich gehe zu jedem seiner Basketballspiele und sitze zwischen seiner kleinen Schwester Esperanza und meinem Dad auf der Tribüne. Dad springt ab und zu auf, um uns Nachos mit Käsesoße, muffige Donuts und schales Rootbeer vom Imbiss zu holen. Dabei macht er immer ein schuldbewusstes Gesicht, aber das ist mir egal. Abgestandenes Fertigessen ist in unserem Leben eine seltene Kostbarkeit – ein kunstvoller Quarzkristall in einem braunen
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