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Dunkle Wasser

Dunkle Wasser

Titel: Dunkle Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Jane Beaufrand
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Dann griff er sich in die Hosentasche und zog ein grünes Tablettendöschen aus Plastik heraus. Er schüttelte es und der Inhalt rappelte. »Eh ich’s vergesse, warst du an meinem Arzneischränkchen?«
    »Nein.« Von Dads Medikamenten ließ ich die Finger, aus Überzeugung, dass sie das Einzige waren, was ihn davor bewahrte, Schimmel anzusetzen und sich einzuigeln. Ich hatte Ibuprofen für die Tage, an denen ich es mit dem Training übertrieb. Etwas Stärkeres wollte ich nicht nehmen.
    »Ich dachte nämlich, ich hätte hiervon noch zwanzig, aber es sind bloß noch fünfzehn.«
    »Von welchen denn?«
    »Lorazepam.« Er schraubte den Deckel ab, schüttete zwei heraus und gab sie mir. Die Tabletten hinterließen kleine Kreideringe in meinen noch nassen Händen.
    »Ich bin mir nicht sicher, ob ich die haben will«, sagte ich. Dass Dad sie so hortete, machte mich zutiefst misstrauisch.
    »Keine Angst, die sind nicht schlimm, Ronnie«, sagte er. »Ich nehm sie manchmal zum Einschlafen. Wenn ich einen richtig harten Tag hinter mir habe. Weißt du? So wie du heute.«
    Ich bezweifelte, dass er je so einen Tag wie ich erlebt hatte, aber vielleicht ja doch. Vielleicht war genau das sein Problem. Vielleicht gab es solche Tage in seinem alten Job fünfmal die Woche, zweiundfünfzig Wochen im Jahr.
    »Nicht auf einmal nehmen, sie machen süchtig. Und jeder Psychologe wird dir sagen, dass du die Gefühle, die du jetzt hast – dass du sie letztendlich zulassen musst. Dafür kommen die Kochkünste deiner Mutter wie gerufen. Mit einem guten Essen erträgt der Schmerz sich leichter.«
    Wie Aspirin, dachte ich, als ich auf die kleinen Tabletten in meiner Hand sah.
    Dad lächelte mich traurig an und verzog sich dann wieder nach unten in die
Astro-Lounge
. Wahrscheinlich war es dort auch voll von inoffiziellen Trauergästen.
    Obwohl er gesagt hatte, ich müsse nicht mit anpacken, lief ich den ganzen Abend zwischen den Gästen hin und her, sammelte Pappteller ein und lauschte den Gesprächsfetzen. Die Leute erzählten sich ihre Erinnerungen an Karen, alskönnten sie sie dadurch festhalten. Alle lächelten mich herzlich an, manche drückten mir sogar die Hand, aber niemand fragte mich etwas – nicht einmal, wie es mir ging. Es war, als hätten sie allesamt beschlossen, mich in Ruhe zu lassen. Und da spürte ich eine Seelenverwandtschaft mit all den großherzigen Menschen im Raum, diesen Menschen mit ihren verwobenen Erinnerungen, den Häkelmützen und dem sanften und dennoch festen Händedruck.
    »Sie war bei mir in der Sonntagsschule«, hörte ich eine Frau mit blaustichigen Haaren zu einer anderen sagen. »Älter als fünf kann sie nicht gewesen sein. Einmal hat sie mich gefragt, ob Wapitihirsche in den Himmel kommen. Ich hab versucht, ihr zu erklären, dass sie keine Seele haben, aber das hat nichts genützt. Armes Ding. Bestimmt hat sie einen auf der Motorhaube eines Pick-ups gesehen.«
    Die andere Blauhaarige schnalzte mitleidig mit der Zunge. »Hach, das ist aber auch eine heikle Frage.« Die beiden selbst waren anscheinend vollkommen vertraut mit der Abgrenzung beseelt/unbeseelt. Ich beneidete sie um ihre Gewissheit. Was ich glaubte, wusste ich nicht. Wenn Wapitis keine Seele hatten, wie stand es dann mit innig geliebten Haustieren? Hunde, die ein Halstuch trugen und Frisbeescheiben fingen, Katzen, die schnurrend und tretelnd bei einem auf dem Schoß saßen, während man Wiederholungen von
Gilligans Insel
sah, vielleicht sogar Goldfische, die zu einem hinschwammen und lächelten, wenn man mit Flockenfutter auf sie zukam. Verdienten sie keine Seele, wenn wir sie doch so sehr liebten?
    Meine ganze Schicht hindurch bewegte ich mich wie ein Geist, mit geübten, flüssigen Gesten. Eigentlich arbeitete ich gar nicht, vielmehr schwebte ich umher und sann über die großen Fragen nach. Doch ich kam nicht weiter. Am Ende des Abends war ich mehr um das Jenseits gekreist als ums Buffet. Gegen elf, als der Laden sich geleert hatte, ging ich schließlich nach oben und fiel ins Bett. Gretchen hatte die Bettschublade wieder ordentlich zugeschoben, sodass nichts davon zeugte, dass sie überhaupt hier gewesen war. Die perfekte Zimmergenossin.
    Mir fielen Dads Tabletten ein. Ich nahm sie aus der Schürzentasche. Sie waren winzig. Konnten so kleine Dinger wirklich so reinhauen?
    Ich legte sie auf meinen Nachttisch. Vielleicht, wenn es gar nicht mehr anders geht, dachte ich. Außerdem hatte Dad ja gesagt, dass ich den Schmerz letztlich zulassen

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