Dunkle Wasser
Heute gab es Schlimmeres als einen einsamen Hirschbock. Ich hatte die Viecher rennen gesehen. Schnell genug waren sie jedenfalls.
Kojotenspuren; Kaninchenspuren; Patronenhülsen. Eine leere Schachtel Froot Loops, die in einem kleinen Tümpel Kreise zog. Nichts Außergewöhnliches, jedenfalls nicht hier. Und was war mit dem Ufer drüben? Ach … da wäre es bestimmt anders.
Und doch versuchte ich nicht mal, den Fluss zu überqueren. Ich schob es auf meine Schuhe mit den glatten Sohlen. Anlassen oder ausziehen, so oder so war es nicht besonders sicher, über die glitschigen Steine zu waten. Ich hatte Karens Kopf gesehen. Sosehr ich auch helfen wollte, die nächste Leiche wollte ich nicht sein.
Wahrscheinlich schaffte ich es nicht mal vierhundert Meter weit, so lausig war ich als Pionierin. Hin und wieder hob ich das Gesicht zu den Regenwolken und sagte: »Ich versuch’s ja«, wie um mich bei einer Karen in einem Himmel irgendwo dort oben zu entschuldigen, statt bei der Karen gleich hinter der nächsten Biegung, die ich eben erst aus dem Blick verloren hatte. Ich sagte mir, dass ich nicht nach Karen selbst suchte – ich suchte nach ihrer
Spur
. Ein Frösteln überlief mich und ich schaute zum unerforschten Ostufer.
Schon da war mir klar, dass ich hinübermusste, wenn ich sie einholen wollte.
Ein Rascheln im Gebüsch bewahrte mich davor, endgültig den Rückzug anzutreten. Das war’s, dachte ich. Was immer ich zu finden gehofft hatte, es würde sich jeden Moment auf mich stürzen. Ich sah etwas Braunes aufblitzen. Es war groß – vielleicht ein Hirsch, ein Grizzly oder ein Wilderer, vielleicht aber auch ein Irrer mit kräftigen, behaarten Armen, der nur darauf wartete, mir den Kopf unter Wasser zu halten.
Stapf, wisch, stapf, wisch, stapf, wisch
. Aus dem Dickicht kam Tomás zum Vorschein. Er trug einen braunen Regenumhang und fuchtelte am helllichten Tag mit einer Taschenlampe herum.
»Mann, hast du mir einen Schreck eingejagt«, entfuhr es mir.
»Das sagt die Richtige. Warum bist du einfach abgehauen?«
Darauf wusste ich keine Antwort, daher murmelte ich nur was von »Die Herde retten«, auch wenn es keinen Sinn ergab, nicht mal für mich. Was soll’s? Ich mochte Tomás, aber das hieß noch lange nicht, dass ich ihm eine schlüssige Erklärung schuldig war.
»Wir haben uns Sorgen um dich gemacht, weißt du das?«, sagte er. In seiner Stimme lag eine Schärfe, wie ich sie von ihm nicht kannte, und ich hatte Angst. »Du hättest Bescheid sagen sollen, wo du hingehst.«
Obwohl ich seinen gewalttätigen Vater nie zu Gesicht bekommen hatte, überfiel mich in diesem Moment eine Ahnung davon, wie er gewesen sein musste – ich sah es im Dunkel der Augen seines Sohnes. Deshalb war er mir gegenüber so schweigsam. Davor nahm er sich so in Acht. Wenn man schon einsachtundneunzig groß ist, kann man sich nicht auch noch leisten, gemein zu sein, sonst hat man gar keine Freunde. Ich fragte Tomás nie danach, in welcher Form sein Vater gewalttätig gewesen war, aber manchmal, wenn mein Blick auf die lange wulstige Narbe an seinem Handgelenk fiel, stellte ich es mir vor. Ich meine, wenn man so einen Vater hat, kann man dann je wütend werden? Oder hat man immer Angst, die Beherrschung zu verlieren?
Aber darum ging es hier nicht.
Ich fragte mich, ob er wütend war, weil ich mich gedankenlos verhalten oder weil er Angst um mich hatte. Ich war am selben Tag verschwunden, an dem eine Leiche aufgetaucht war.
»Du hast recht«, sagte ich. Und da regte er sich wieder ab. Jede Spur von Zorn schien von ihm zu weichen, direkt durch seine Stiefel in den Boden.
»Tut mir leid«, sagte er. »Aber wir haben uns wirklich Sorgen gemacht. Ich musste deinen Eltern sagen, dass du nur mal kurz vor die Tür gegangen bist. Und ich lüg deinen Vater nur sehr,
sehr
ungern an.«
Tomás vergötterte meinen Vater geradezu. Manchmal ließ er ihn sogar beim Basketball gewinnen, was Dads nicht vorhandenes Selbstbewusstsein enorm puschte. Es war goldig mit anzusehen, solange ich nicht ausschließlich zum Zuschauen verdonnert war und mich fragte, wie ich ins Bild passte. Ich war kein Sohn, keine Schwester. Was war ich eigentlich?
Wasser. Alles umfließend, zu nichts gehörend. So war es leichter.
»Ich ruf sie an«, sagte ich.
Instinktiv tastete ich nach meiner Hosentasche mit dem Handy. Aber da war keine Tasche. Ich hatte nicht meine Jogginghose an, sondern die Kakihose. Meine Arbeitshose. Und wenn ich in der Küche war, brauchte ich kein
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