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Dunkle Wasser

Dunkle Wasser

Titel: Dunkle Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Jane Beaufrand
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musste. Warum also nicht gleich? Sinnlos, es aufzuschieben. Vielleicht brauchte ich sie nicht, um einzuschlafen. Vielleicht brauchte ich bloß einen Soundtrack.
    Ich weiß, es klingt verrückt, aber nichts entspannt mich so wie Musik mit richtig lauten, treibenden Gitarren, wie von
The Clash
oder den
Ramones
. Und manchmal, wenn ich ganz deprimiert und am Boden war wie heute Nacht, ging ich noch weiter in die Popgeschichte zurück und entschied mich für
The Who
. Nicht bloß irgendwas von
The Who
. Es musste
Quadrophenia
sein, eins von Pete Towns-hends Konzeptalben, wie seine Rockoper
Tommy
. Was ›Konzept‹ hieß, wusste ich nicht, außer dass die Stücke einGanzes bilden sollten statt aneinandergeklatschter Einzeltracks. Es gab Melodien, die sich durch das ganze Album zogen – einige so unterschwellig, dass sie wie Echos klangen. Etwa so: »Is it me, for a moment?«
Moment, moment, moment
… Es gibt auch einen Film namens
Quadrophenia
. Er handelt von einem Jungen, der zu viele Drogen einwirft und das Gefühl hat, er hätte für jede Gelegenheit ein eigenes Ich. Große Identitätskrise, aber da er Engländer ist, kann er auch als gespaltene Persönlichkeit noch stylish aussehen, wenn er im Parka auf seiner Vespa rumgondelt. Am Ende des Films steht er auf seinem Roller, gibt Vollgas und fährt ihn eine Klippe hinunter. Den Roller sieht man in dreißig Metern Tiefe auf die Felsen einer Küste krachen, aber ihn selbst sieht man nicht mit hinunterfallen. Und dann ist der Film vorbei. Während der Abspann läuft, fragt man sich: Hat er’s wirklich getan? Oder hat er im letzten Moment gekniffen und sich fürs Leben entschieden?
    Sicher, dieser Schluss war düster. Doch alles andere schien mir auf einmal nicht das Richtige. Ich musste
Quadrophenia
hören. Ohne konnte ich nicht einschlafen. Zum Glück hatte ich es komplett in iTunes gespeichert.
    Ich zog die Nachttischschublade auf, um meinen iPod herauszuangeln, aber er lag nicht drin. Ich kramte unter meinen Lesezeichen, einem Tagebuch, in das ich nichts mehr schrieb, und mehreren Textmarkern, die vor dem Austrocknen pink und gelb gewesen waren. Kein Glück. Dann dachte ich: Vielleicht hab ich ihn im Rucksack gelassen. Doch da war er auch nicht. Und auch nicht in meinemSchreibtisch, auf meinem Bücherregal oder unter den Kissen in der Fensternische. Und ebensowenig im Badezimmer. (Hatte ich auch nicht erwartet, aber ich war so verzweifelt, dass ich trotzdem nachschaute.)
    Schließlich sah ich ein, dass ich es nicht ändern konnte. Morgen würde ich in der Küche gucken und am Montag in meinem Schließfach in der Schule.
Quadrophenia
musste warten.
    Ich zog meinen Schlafanzug an und kroch unter die fünf Steppdecken. Ich überlegte, ein Weilchen zu lesen, aber dann fiel mein Blick wieder auf die zwei kleinen Tabletten auf dem Nachttisch, und ich dachte: Soll ich?
    Mut brauchte man nicht nur, um einen schnell strömenden Fluss zu überqueren. Also legte ich mir eine der Tabletten in die hohle Hand, stellte mich auf meine Vespa und stürzte mich vom Kliff.

Verlorn, verlorn, verlorn …
    Ich bin wieder auf der Santiam River Road mit all ihren Schleifen und Windungen. Der Himmel ist bewölkt. Um mich her weinen riesige Douglasfichten Moos. Der Fluss rauscht klagend dahin. Ich will zum Gasthaus laufen, doch ich komme nicht voran. Es ist, als liefe ich durch Treibsand
.
    Dann biege ich um eine Kurve und sehe Karen, lebendig und in ihrem blauen Walmantel. Ihre hellbraunen Haare fallen in perfekten Ringellöckchen herab, doch als sie sich zu mir umdreht, sehe ich, dass die Narbe auf ihrer Stirn blutet. Leuchtend rotes Blut und Kiessteinchen rinnen ihr in die Augen, wie an dem Tag, als ich ihr zum ersten Mal begegnet bin
.
    Karen!, rufe ich. Ich muss zu ihr. Etwas Schreckliches wird geschehen und nur ich kann es aufhalten
.
    Sie läuft kichernd davon
.
    Ich laufe hinterher. Wenn ich sie fange, kann ich sie retten. Doch ganz gleich, wie schnell ich laufe, ich komme nicht vom Fleck
.
    Warte!, rufe ich, als sie wieder hinter einer Biegung verschwindet. Komm zurück!
    Sie stößt das Eisentor zum
Patchworks
auf und mein Herz setzt einen Schlag aus. Zum
Patchworks
will sie nicht. Sie will weiter, und wenn ich sie jetzt nicht zurückhole, ist sie für immer unerreichbar
.
    Ich renne mit aller Kraft. Ich muss sie aufhalten
.
    Auf dem Rasen hinter dem Haus, wo das graue Flussgestein auf saftiges grünes Gras trifft, bleibt sie stehen. Sie streift die Stiefel ab
.
    Nein! Ich stürze

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