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Dunkler Dämon

Dunkler Dämon

Titel: Dunkler Dämon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeff Lindsay
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betrachten. Darauf standen in krakeliger Handschrift mehrere Buchstaben; ich beugte mich noch weiter hinunter, um sie zu entziffern; L-O-Y-A-L–I T-A-E-T.
    »Loyalität?«, fragte ich.
    »Klar. Ist das nicht eine wichtige Tugend?«
    »Fragen wir ihn«, erwiderte ich, und Angel schauderte so heftig, dass er beinahe seine Pinzette fallen ließ.
    »
Me cago en diez
auf diesen Scheiß«, sagte er und langte nach einer Plastiktüte, um das Papier darin zu verstauen. Es schien nichts zu sein, wobei man zuschauen musste, und auch sonst gab es nichts zu sehen, deshalb wandte ich mich zum Ausgang.
    Ich bin gewiss kein professioneller Profiler, aber aufgrund meines düsteren Hobbys habe ich ein gewisses Verständnis für Verbrechen, die aus dem gleichen Umfeld stammen. Dieses jedoch lag jenseits der Grenzen aller Dinge, die ich jemals gesehen oder mir vorgestellt hatte. Es gab keine einzige Spur, die auf eine bestimmte Persönlichkeit oder ein Motiv hinwies, und ich war ebenso fasziniert wie verwundert. Welches Raubtier würde Fleisch so herumliegen lassen, zumal, wenn es noch zuckte?
    Ich ging nach draußen auf die Veranda. Doakes stand bei Captain Matthews, sie steckten die Köpfe zusammen, und er berichtete ihm etwas, worauf der Captain besorgt wirkte. Deborah kauerte neben der alten Dame und redete leise mit ihr. Ich spürte, wie eine leichte Brise aufkam, die Gewitterbrise, die sich kurz vor dem im Juli unvermeidlichen Nachmittagssturm erhebt, und als ich nach oben sah, zerplatzten bereits die ersten schweren Regentropfen auf dem Bürgersteig. Auch Rick Sangre, der neben dem Aufnahmegerät gestanden und sein Mikrofon geschwenkt hatte, um Captain Matthews’ Aufmerksamkeit zu erregen, sah zu den Wolken hoch, und als der Donner zu grollen begann, warf er seinem Aufnahmeleiter das Mikrofon zu und verkroch sich im Übertragungswagen.
    Mein Magen grollte ebenfalls und erinnerte mich daran, dass ich bei der ganzen Aufregung das Mittagessen ausgelassen hatte. So ging es einfach nicht; ich musste meine Kräfte beisammenhalten. Mein von Natur aus auf Hochtouren laufender Stoffwechsel bedurfte permanenter Fürsorge. Keine Diät für Dexter. Aber ich war fahrzeugtechnisch von Deborah abhängig, und ich hatte so ein Gefühl, nur eine Ahnung, dass sie die Erwähnung einer Mahlzeit momentan nicht sonderlich freundlich aufnehmen würde. Ich sah wieder zu ihr hinüber. Sie wiegte die alte Dame, Mrs. Medina, in ihren Armen, die das Würgen offensichtlich aufgegeben hatte und sich nun aufs Schluchzen konzentrierte.
    Ich seufzte und wanderte durch den Regen zum Auto. Nass zu werden störte mich eigentlich nicht. Es sah aus, als hätte ich eine lange Wartezeit vor mir, in der ich trocknen konnte.
     
    Ich musste in der Tat lange warten, fast zwei Stunden. Ich saß im Auto, hörte Radio und versuchte mir Bissen für Bissen vorzustellen, wie es war, ein Sandwich
medianoche
zu essen: das Krachen der Brotkruste, so frisch und knusprig, dass sie am Gaumen kratzt, wenn man hineinbeißt. Dann der Geschmack von Senf, gefolgt von schmelzendem Käse und dem Salz des Fleisches. Der nächste Bissen – eingelegtes Gemüse. Gründlich kauen, die Aromen sollen sich vermischen. Schlucken. Man nehme einen großen Schluck Iron Bier (sprich Ie-ran Beyer, und es ist eine Limo). Seufzer. Pure Glückseligkeit. Essen ist meine Lieblingsbeschäftigung, vor allen anderen, abgesehen von den Spielen mit dem Dunklen Passagier. Es ist ein echtes genetisches Wunder, dass ich nicht dick bin.
    Ich aß mein drittes imaginäres Sandwich, als Deborah endlich zum Auto zurückkehrte. Sie glitt auf den Fahrersitz, zog die Tür zu und saß einfach da, starrte geradeaus durch die verregnete Windschutzscheibe. Und ich wusste, ich sollte es mir lieber verkneifen, aber ich konnte nicht anders: »Du siehst geschafft aus, Deb. Wie wäre es mit Mittagessen?«
    Sie schüttelte den Kopf, sagte aber nichts.
    »Vielleicht ein schönes Sandwich. Oder ein Obstsalat – um den Blutzuckerspiegel wieder zu erhöhen? Du wirst dich gleich viel besser fühlen.«
    Jetzt sah sie mich an, aber in ihrem Blick lag kein wahres Versprechen eines Mittagessens, weder jetzt noch in naher Zukunft. »Darum wollte ich Polizistin werden«, sagte sie.
    »Wegen Obstsalat?«
    »Das Ding da drin …«, sagte sie, und dann wandte sie sich ab und starrte wieder durch die Windschutzscheibe. »Ich will dieses, dieses – was immer es ist, das einem menschlichen Wesen so etwas antun kann, ich will es drankriegen.

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