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Dunkler Dämon

Dunkler Dämon

Titel: Dunkler Dämon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeff Lindsay
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um zu husten, und dieses Mal dauerte es länger und schien von tief unten zu kommen. Harry so zu sehen – den unzerstörbaren Superpolizisten, Adoptivvater Harry, zitternd und rot anlaufend, und mit Augen, die von der Anstrengung tränten – war fast zu viel. Ich musste den Blick abwenden. Als ich einen Moment später erneut hinsah, beobachtete Harry mich wieder.
    »Ich kenne dich, Dexter. Besser als du dich selbst«, und das glaubte ich ihm mühelos, bis er fortfuhr: »Du bist im Grunde ein netter Junge.«
    »Nein, das bin ich nicht«, widersprach ich, weil ich an die wunderbaren Dinge dachte, die ich bis jetzt nicht hatte tun dürfen; selbst nur mit dem Gedanken daran zu spielen schloss jede Assoziation mit Nettsein vollkommen aus. Außerdem waren mir die meisten anderen hormongesteuerten, pickligen Jünglinge meines Alters, die den Ruf hatten, nette Jungs zu sein, nicht ähnlicher als ein Orang-Utan. Aber Harry wollte nichts davon hören.
    »Doch, das bist du«, sagte er. »Und du musst daran glauben. Dein Herz sitzt am rechten Fleck, Dex …«, sagte er, und dann überwältigte ihn ein geradezu epischer Hustenanfall. Er schien mehrere Minuten zu dauern, aber schließlich ließ er sich wieder in die Kissen fallen. Er schloss einen Augenblick lang die Augen, und als er sie wieder aufschlug, leuchteten sie stahlharryblau, leuchteten heller denn je in der grünlichen Blässe seines sterbenden Gesichts. »Geduld«, sagte er. Und er klang überzeugend, trotz der schrecklichen Schmerzen und der Schwäche, die er gefühlt haben muss. »Du hast noch einen langen Weg vor dir, Dex, und mir bleibt nicht mehr viel Zeit.«
    »Ja, ich weiß«, antwortete ich. Er schloss die Augen.
    »Genau das meine ich«, sagte er. »Eigentlich hättest du sagen müssen, nein, mach dir keine Sorgen, du hast noch viel Zeit.«
    »Aber die hast du nicht«, sagte ich, nicht sicher, worauf er hinauswollte.
    »Nein, stimmt«, erwiderte er. »Aber die Menschen tun so. Damit es mir besser geht.«
    »Geht es dir denn dann besser?«
    »Nein«, sagte er und schlug die Augen wieder auf. »Aber du kannst an menschliches Verhalten keine logischen Maßstäbe anlegen. Du musst geduldig sein, beobachten und lernen. Sonst baust du Mist. Wirst gefasst und … mein halbes Vermächtnis.« Er schloss wieder die Augen, und ich konnte die Anstrengung in seiner Stimme hören. »Deine Schwester wird eine gute Polizistin werden. Du …« Er lächelte langsam, ein wenig traurig. »Du wirst etwas anderes sein. Wahre Gerechtigkeit. Aber nur, wenn du geduldig bist. Falls du keine Chance siehst, Dexter, warte, bis sie kommt.«
    Das alles schien so überwältigend für einen siebzehnjährigen Ungeheuerlehrling. Alles, was ich wollte, war, die Sache zu tun; ganz einfach, ehrlich, einfach im Mondschein tanzen und die leuchtende Klinge schweben lassen – so leicht, so natürlich und angenehm –, einfach durch alle Ungereimtheiten den Dingen auf den Grund gehen. Aber ich durfte nicht, Harry machte es kompliziert.
    »Ich weiß nicht, was ich tun soll, wenn du tot bist«, sagte ich.
    »Du wirst es prima machen«, sagte er.
    »Ich muss an so vieles denken.«
    Harry streckte den Arm aus und drückte auf einen Knopf, der an einer Schnur neben seinem Bett hing. »Du wirst daran denken«, versicherte er mir. Er ließ die Schnur fallen, und es war beinah, als ob sie seine letzte Kraft mit sich nahm, als sie an der Seite des Bettes herabfiel. »Du wirst dich erinnern.« Er schloss die Augen, und einen Augenblick lang war ich ganz allein in dem Zimmer. Dann hastete die Schwester mit einer Spritze herein, und Harry klappte ein Auge auf. »Wir können stets tun, was wir glauben, tun zu müssen. Wenn du also nichts anderes tun kannst, wartest du«, sagte er und streckte seinen Arm der Injektion entgegen. »Gleichgültig, welchen … Druck … du auch spüren magst.«
    Ich betrachtete ihn, wie er da lag, die Spritze ohne ein Zucken über sich ergehen ließ, wusste, dass selbst sie nur vorübergehend Erleichterung brachte, dass sein Ende bevorstand und nichts es aufhalten konnte – und wusste, dass er keine Angst hatte und dass er es mit Anstand hinter sich bringen würde, wie er alles andere in seinem Leben mit Anstand gemeistert hatte. Und noch etwas wusste ich: Harry verstand mich. Niemand hatte das je zuvor, und niemand würde es in Zukunft tun, niemals, nirgendwo. Nur Harry.
    Wenn ich darüber nachdachte, menschlicher zu werden, dann nur, um ihm ähnlicher zu

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