Dunkler Schlaf: Roman (German Edition)
merken.«
»Glaub ich nicht. Dazu hat sie viel zu große Angst.«
Andreas stieg aus und ging auf die Frau zu. Die wurde langsamer und schaute ein wenig unsicher zum Auto hinüber. Frauen sind seltsam, dachte Andreas, die können verdammt noch mal riechen, wenn etwas nicht stimmt. Oder sie sehen alles anders als Männer. Vielleicht, weil sie mehr Feinde haben. Frau sein. Die ganze Zeit auf der Hut sein müssen. Verdammter Streß! Eigentlich hatte die Frau den Parkplatz überqueren wollen, doch dann hätte sie direkt an dem Auto vorbeigemußt. Unvermittelt drehte sie den Wagen um und schlug einen anderen Weg ein. Dieses Manöver war kläglich durchsichtig. Man konnte nicht wissen, wie sie auf den Gedanken gekommen war. Ob das schäumende Meer sie dazu veranlaßt hatte, die Tatsache, daß die Straße auf dieser Seite gesperrt war, oder vielleicht das Kind. Die Verantwortung für ein anderes Wesen. Und der Umstand, daß sie es mit Männern zu tun hatte. Eine plötzliche unerklärliche Angst. Außerdem war der Wind so bedrohlich heftig, und das Meer schlug wütend gegen den Strand. Niemand würde sie schreien hören. Andreas blieb stehen, legte den Kopf schräg und schaute ihr hinterher. Sie blickte unsicher zurück. Sofort machte er eine hilflose Handbewegung. Das Licht war grell und weiß. Sie steuerte auf einen Wanderweg zu, der steil zu einer Anhöhe über dem Wasser führte. Zipp saß im Auto und wartete. Er ließ Andreas nicht aus den Augen. Andreas folgte der Frau, sie ging schneller, doch dann hörte sie seine Stimme. Und drehte sich widerwillig um. Den meisten fällt es eben doch schwer, einen freundlich rufenden Menschen zu ignorieren. Und natürlich war er nicht gefährlich, was für eine blödsinnige Vorstellung. Sie hatte einfach Vorsicht walten lassen, war einer möglichen Gefahr ausgewichen. Der Säugling im Wagen hatte sie gelehrt zu verstehen, wie die Welt war. Nachts konnte sie kaum schlafen; wenn sie schlief, verschwand das Kind aus ihrem Bewußtsein, und das ertrug sie nicht.
»Verzeihung!«
Andreas rief mit hauchzarter Stimme. Das gelbe Hemd flatterte um seine schmale Hüften. Seine rechte Hand verdeckte das Messer. Er sah aus wie ein großer Konfirmand. Zipp wartete im Auto; nervös beobachtete er, wie die Frau endlich stehenblieb. Es kam ihm nicht richtig vor, daß Andreas sich gerade sie ausgesucht hatte, diese Frau mit dem kleinen Kind. Etwas an der Art, wie sie den Schieber des Kinderwagens umklammerte, machte ihm angst. Es war die schiere Verzweiflung, die weißen Hände lagen wie Krallen um den Griff. Ihr ging es nicht um die Tasche, sondern um das kleine Geschöpf unter der blauen Decke. Er überlegte sich, daß etwas passieren konnte, daß sie wegen ihres Kindes unberechenbar war. Er zog die Handbremse und stieg aus. Obwohl Andreas ihm aufgetragen hatte, sitzen zu bleiben. Jetzt war Andreas fast bei ihr. Er hielt einen gewissen Abstand, um nicht bedrohlich zu wirken. Und er war ja einfach unwiderstehlich. Zipp sah an ihren Augen, daß sie die Schrift auf der Mütze las, daß sie das kleine weiße Kreuz und die Buchstaben gesehen hatte. Ihre Schultern senkten sich. Sie fuhr sich sogar mit einer Hand über das Kopftuch, kokett beinahe, und lächelte ihn an. Andreas sagte etwas. Die Frau antwortete und zeigte, am Parkplatz vorbei und die Straße hoch. Zipp ging näher heran. Er sah sich den Wagen an und entdeckte die Tasche. Eine Umhängetasche aus Nylon, schwarz-rot. Andreas trat noch einen Schritt vor, schaute in die andere Richtung, näherte sich der Tasche gewissermaßen rückwärts. Zipp ging weiter; plötzlich entdeckte Andreas ihn und schien für einen Moment verwirrt. Sie waren inzwischen ziemlich weit oben. Unten war kein Strand mehr, sondern ein steiler Hang fiel zum Wasser hin ab und lief in vielen spitzen Steinen aus. Unvermittelt sprang Andreas vor, schnappte sich die Tasche und stürzte zurück in Richtung Auto. Die Frau schrie auf. Versuchte verzweifelt, sich in der neuen Situation zu orientieren; sie hatten sie doch betrogen, gerade als sie beschlossen hatte, sie für brave Jungs mit ehrlichen Absichten zu halten. Da kam etwas über sie, eine heftige Wut oder vielleicht ein Gefühl der Ohnmacht. In einem Reflex trat sie auf die Bremse des Kinderwagens und rannte hinterher.
»Ins Auto«, schrie Andreas.
Aber Zipp blieb stehen. Sie kamen auf ihn zugelaufen, doch er rührte sich nicht vom Fleck, denn er sah, wie der Wagen den Hang zum Wasser hinunterrollte. Sie hatte die
Weitere Kostenlose Bücher