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Dunkler Schlaf: Roman (German Edition)

Dunkler Schlaf: Roman (German Edition)

Titel: Dunkler Schlaf: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Fossum
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zum Telefon. Hielt lange den Hörer in der Hand. Wählte dann endlich die Nummer des Ladens. Es wunderte mich, daß ich sie noch wußte. Daß mein Gehirn nicht von dem Schrecklichen im Keller lahmgelegt war, daß es trotz allem funktionierte. Ich konnte das hervorholen, was ich brauchte. Ich finde, in der Hinsicht sind wir Menschen komisch. Aber ich mußte anrufen. Ich mußte um jeden Preis verhindern, daß jemand vor meiner Tür auftauchte. Bei dieser Vorstellung schnaubte ich unwillkürlich. Ich konnte hier sterben, ich konnte tagelang tot hier liegen, bis der Geruch das Nachbarhaus erreichte. Merete meldete sich.
    »Ach was, Irma, du bist krank? Ja, entschuldige, aber du bist doch nie krank. Ja, sicher, wir kommen klar. Laß dir ruhig Zeit mit dem Gesundwerden.«
    Sie war sehr zufrieden. Die anderen sind alle jünger als ich. Und ich dämpfe ihre gute Laune. Jetzt konnten sie sich gehenlassen und nach Herzenslust über die Kundschaft herziehen. Und über mich natürlich. Ihr tat das alles überhaupt nicht leid. Ich hatte recht, wie immer, ich habe immer schon recht gehabt. Ich sah Merete förmlich vor mir in dem kleinen Büro hinter dem Tresen. Sie schaute in den Laden, zu Linda hinüber, das ist die mit den künstlichen Nägeln. Verschwörerisches Lächeln. Nein, das machte mir nicht zu schaffen, es war doch immer so.
    »Danke«, flüsterte ich.
    »Warst du schon beim Arzt?« fragte sie rasch. Und freute sich offenbar über diese Geistesgegenwart mitten in ihrem Freudenrausch.
    »Ich ruf ihn jetzt an. Vielleicht muß ich einige Tage das Bett hüten.«
    »Mach dir unseretwegen keine Gedanken. Wir werden den Laden schon in Gang halten.«
    Ja, dachte ich, ich habe mich noch nie für unentbehrlich gehalten. Und ich dachte: Jetzt höre ich Meretes Stimme zum letzten Mal. Sie ist ganz hoch, eine Art Zwitschern. Jetzt können sie auf dem Tisch tanzen. Ich werde nie zurückkehren.
    »Gute Besserung«, sagte Merete rasch. Und dann war sie verschwunden. Sie steuerte ihren eigenen Kurs und hatte keine Ahnung, wie tief der Meeresgrund ist. Für einen Moment tat sie mir leid. Wie alle, die jung sind und so wenig wissen.
    Ich blieb eine Weile stehen und horchte. Aus dem Keller war nicht ein Laut zu hören. Jetzt ist er tot, dachte ich. Er hat diese Nacht nicht überlebt. Denn sonst würde er jetzt schreien; er hätte meine Stimme gehört und würde um Hilfe schreien.
    Und dann schrie er. Vor Schreck ließ ich das Telefon fallen. Das muß er gehört haben. Der Alptraum war durchaus noch nicht zu Ende. Der Mann lag noch immer da unten und schrie. Ich mußte Hilfe holen!
    Ich zog eine Strickjacke über und starrte den gestreiften Läufer an. Ich mußte einen Krankenwagen holen. Warum hatte ich das nicht längst getan? Wie lange lag er schon da? Ungefähr seit Mitternacht. Seit Mitternacht? Ach was? Und wieso? Weil ich ihn für tot gehalten habe. Was war das denn für eine Antwort? Ich ließ mich auf einen Stuhl sinken. Starrte die geblümte Tischdecke an, dieselbe wie immer, ich habe sie selbst gestickt, jeden einzelnen Stich. Ein Jahr habe ich für diese Decke gebraucht, sie ist mein ganzer Stolz. Verzeihung. Jetzt rede ich unwichtiges Zeug, aber es ist wirklich eine schöne Decke, das kann ich mit gutem Gewissen behaupten. Einen Schluck Kaffee vielleicht? Ich starrte die Kaffeemaschine an. Kaffee konnte nun wirklich nicht schaden. Ich erhob mich und drehte den Wasserhahn auf. Er schrie wieder, etwas leiser jetzt. Ich schaltete das Radio ein. Was er wohl dachte, wenn er die Musik hörte? Daß ich verrückt sei, wahrscheinlich. Aber ich bin nicht verrückt, gerade das machte mir ja angst. Ich kam mir sogar äußerst vernünftig vor. Der Raum in meinem Gehirn war offen und glasklar.
    Da unten war es kalt. Sollte ich nach unten schleichen und ihn zudecken? Ich brauchte ihn dabei nicht anzusehen, ich konnte einfach eine Decke über ihn breiten und wieder nach oben laufen. Ich brauchte Zeit. Natürlich würde er gefunden werden. Dafür würde ich sorgen, aber zunächst mußte ich für mich selbst eine Lösung finden. Da mußte so viel erklärt werden. Die Vorstellung war unmöglich, was würden sie denken? Und Ingemar. Die Arbeitskolleginnen. Wenn es in der Zeitung stand. Ich schaute aus dem Fenster. Und sah den Garten. Den kleinen Pavillon und die Krone der Hecke. Ich sah das Dach des Nachbarhauses. Vom ersten Stock aus konnten die Nachbarn mein Küchenfenster sehen. Ich zog den Vorhang vor. Überlegte mir die Sache dann aber anders

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