Dunkler Schlaf: Roman (German Edition)
leben, verfügte noch über einige Kraft. Er wußte, daß ich da war, daß ich ihn retten konnte. Ich drehte das Radio noch lauter. Ging ins Schlafzimmer und setzte mich auf die Bettkante. Hörte durch die offene Tür die Musik. Ein Mann schrie in tiefster Verzweiflung: »I lied for you, and that’s the truth.« Ich blieb sitzen, bis die Dämmerung kam. Graues Licht strömte wie schmutziges Wasser durch das Fenster herein. Ich konnte nichts tun. Er schrie nicht mehr.
2. SEPTEMBER
Eine gutangezogene Frau mittleren Alters betrat das Foyer. Sie blieb einen Moment stehen und schaute sich um. Dann steuerte sie mit kurzen, energischen Schritten auf den kleinen Glaskasten zu. Vom Haupteingang aus gesehen, wirkte der ziemlich albern. Doch Frau Brenningen fühlte sich auf ihrem Platz darin ausgesprochen wohl. Hier war sie geschützt und spürte nicht einmal den Atemhauch der Menschen, mit denen sie sprach. Brauchte sie nicht zu berühren. War eine Art Verkehrsampel. Rot oder Grün. Zumeist Rot. Die meisten mußten abwarten, bis irgendwer sich dazu herabließ, sie abzuholen. Die Frau war außer Atem. Frau Brenningen dachte sofort an Einbruch und Diebstahl. Etwas war ihr weggenommen worden, und jetzt war sie beleidigt. Sie hatte hektische rote Flecken auf den Wangen, ihr Lippenstift hatte in den Mundwinkeln trockene Krümel hinterlassen. Frau Brenningen hinter ihrer Glasscheibe lächelte zuvorkommend.
»Ich muß mit einem Polizisten sprechen.«
»Worum geht es?«
Die Frau war abweisend. Sie hatte offenbar keine Lust, eine schnöde Rezeptionistin in ihre Angelegenheit einzuweihen. Aber in diesem Haus waren die Aufgaben nun einmal verteilt, und es war ja auch wichtig, daß sie an den Richtigen geriet. Zuerst jedoch mußte festgestellt werden, ob sie hier überhaupt etwas zu suchen hatte. Das Paßamt zum Beispiel war inzwischen in ein anderes Gebäude verlegt worden.
Die Frau versank in Gedanken. Sie erinnerte sich an die drückende Stille im Haus. Obwohl es so früh am Tag immer ruhig war, hatte sie deutlich gespürt, daß etwas fehlte. Etwas Grundlegendes. Sie hatte sich seiner Zimmertür genähert, seitwärts, wie ein Krebs. Sie geöffnet und hineingeschaut. Er war nicht da gewesen. Verwirrt hatte sie die Tür wieder zugemacht. War stehen geblieben und hatte an ihrer Unterlippe genagt. An der Tür hing schon seit Jahren ein Plakat. An diesem Morgen hatte sie es zum ersten Mal wirklich gesehen. »Kneel in front of this brilliant genius.« Sie kam zu sich, weil die Frau im Glaskasten sich geräuspert hatte. Doch sie beantwortete deren Frage nicht.
Frau Brenningen repräsentierte eine Behörde und wollte keinen Streit anfangen. Sie rief in Skarres Büro an und nickte zu der doppelten Glastür hinüber. Die Frau verschwand im Gang. Skarre stand schon wartend in der Tür. Die Frau musterte ihn von Kopf bis Fuß und war von dem, was sie sah, offenbar durchaus nicht begeistert.
»Verzeihung. Sind Sie nur ein Lehrling oder so etwas?«
»Wie bitte?« Er kniff die Augen zusammen.
»Es handelt sich um eine ernste Angelegenheit.«
Davon gehe ich aus, wo Sie nun schon mal hier sind, dachte Skarre. Er lächelte, nachdem er sich eine Bibelstelle in Erinnerung gerufen hatte, bei der es um Geduld geht.
»Das heißt Dienstanwärter«, sagte er gelassen. »Nein, meine Ausbildung ist längst beendet. Aber kommen wir lieber zur Sache.«
»Ich möchte meinen Sohn als vermißt melden.«
Er bot ihr einen Sessel an.
»Ihr Sohn wird vermißt. Wie lange schon?«
»Er ist letzte Nacht nicht nach Hause gekommen.«
»Hier ist also die Rede von einer Nacht?« Er nahm hinter dem Schreibtisch Platz.
»Ich weiß, was Sie meinen. Daß kein Grund zur Besorgnis besteht. Aber das können Sie strenggenommen gar nicht wissen. Sie kennen ihn ja nicht.«
Skarre schüttelte kurz den Kopf. Diese Situation war ihm vertraut. Der Sohn war auch früher schon ausgeblieben. Jetzt wollte sie sich ein für allemal rächen und ihm die Hölle heiß machen. Aber das spielte keine Rolle, Skarre mußte seine Arbeit tun. Er griff nach einem Standardformular für eine Vermißtenmeldung und begann. Trug Ort, Datum und Uhrzeit und seinen Namen samt Dienstgrad ein.
»Der vollständige Name des Vermißten?«
»Andreas Nicolai Winther.«
»Spitznamen oder Kosenamen?«
»Nein, so was hat er nie gehabt.«
»Geboren?«
»4.6.1980.«
»Fester Wohnsitz?«
»Er wohnt bei mir. Cappelens gate vier.«
»Gut. Ich brauche seine Beschreibung. Wie groß, wie gebaut. Ob
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