Dunkler Schlaf: Roman (German Edition)
und zog ihn wieder zurück. Um diese Zeit war er sonst nie geschlossen, und ich mußte alles vermeiden, was als ungewöhnlich betrachtet werden konnte. Als nächstes holte ich die Decke von dem roten Sessel. Eine Wolldecke mit Fransen, beinahe zu warm. Wenn ich meinen Mittagsschlaf hielt, strampelte ich sie immer fort. Was würde er denken? Würde er lauter schreien denn je? Würde das auf der Straße zu hören sein? Ich fing an, den Läufer aufzurollen. Der Ring ist groß, ich kann meine Hand hindurchschieben. Wieder horchte ich. Alles war still, auch er schien zu lauschen. Langsam zog ich die Luke hoch. Wußte, jetzt fällt Licht nach unten und trifft auf sein Gesicht. Mit hämmerndem Herzen blieb ich stehen. Und dann hörte ich ein leises Stöhnen. Vielleicht dachte er, jetzt kommt die Rettung. Er konnte mir nichts tun, er war sicher schwer verletzt. Es war unbegreiflich, daß das passiert war, in meinem Haus. Ich setzte den Fuß auf die oberste Stufe. Vor mir lag eine einfache Aufgabe, ich mußte die Treppe hinuntergehen, insgesamt neun Stufen, ihn zudecken, mich umdrehen und wieder nach oben gehen. Eine gute Tat. Aus dem Augenwinkel sah ich das weiße Gesicht. Oder das bißchen, das oberhalb des Tuchs zu sehen war. Warum hatte er das nicht weggenommen? Konnte er die Arme nicht bewegen? Ich starrte auf meine Füße, das mache ich immer auf dieser Treppe, ich hatte Angst zu stürzen, mir etwas zu brechen und ins Krankenhaus zu müssen. Als noch zwei Stufen vor mir lagen, mußte ich springen. Seine Beine blockierten die letzten Stufen. Ich faltete die Decke auseinander, was einen Moment dauerte, weil ich so nervös war. Und dann legte ich sie über ihn. Ich wollte ihm um nichts in der Welt in die Augen schauen, denn dann würde ich etwas empfinden. Aber ich spürte seinen Blick, wußte, daß er mich ansah. Ich hörte eine Art Gurgeln und starrte auf den Boden links neben seinem Kopf. Dort stand eine Lache bereits geronnenen Blutes. Ich drehte mich um und ging nach oben. Er fing wieder an zu schreien. Er wollte Wasser. Er habe lange nichts mehr getrunken, rief er, ich könne ihn doch nicht verdursten lassen. Ich mußte nach oben gehen, Wasser holen. Das ist der allerschlimmste Tod, dachte ich, langsam zu verdursten. Ob er aus einem Glas trinken konnte? Oder Wasser aus einem feuchten Handtuch saugen? Mir wurde schwindlig. Etwas anderes drängte sich in mein Bewußtsein, ohne Vorwarnung, etwas zutiefst Bewegendes. Langsam stieg ich die Treppe hoch und dachte darüber nach. Ich besaß nichts mehr auf dieser Welt. Niemand strahlte beim Anblick von Irma Funder. Aber das Leben dieses jungen Mannes lag in meinen Händen.
Zipp sprang vom Sofa. Er hatte im Keller geschlafen. Nun fiel ihm alles wieder ein. Es war um elf, die Zeitung war gekommen. Andreas war vermutlich bei der Arbeit. Was auch immer in der Nacht geschehen sein mochte, Andreas war jetzt bei der Arbeit. Lief mit seinem schrägen Lächeln im Eisenwarenladen hin und her. Schwul war er außerdem, es war nicht zu fassen. Und was ist mit mir, fragte Zipp sich besorgt. Was für Signale sende ich aus, die ihn zu diesem Versuch verleitet haben? Hatten auch andere Schwule ihn schon begehrt, ohne daß er es bemerkt hatte? Er ballte die Fäuste. Seine Handflächen waren schweißnaß. Was sollte er Andreas sagen? Würden sie wie früher über Sex reden und Witze reißen können? Das Geschehene vergessen, ja, zur Not, aber immer so tun, als sei alles wie eh und je, war das überhaupt möglich? Wenn sie in die Kneipe gingen, würde Andreas dann die Jungs anglotzen? Hatte er das immer schon getan? Und wo zum Teufel steckte er? Zipp starrte das »Bladerunner«Video auf dem Tisch an. Und hörte Schritte auf der Treppe. Seine Mutter schaute ins Zimmer.
»Das war wohl spät heute nacht?«
Sie sagte das mit einem Lächeln. Sie kümmerte sich nicht um sein Treiben, solange er gesund war und abends nach Hause kam. Sie hatte gern Gesellschaft im Haus. Die meisten zogen in diesem Alter aus – seine Mutter gab sich alle Mühe, ihn zu halten. Und solange er keine Arbeit hatte, konnte er ja auch gar nicht umziehen.
»Warum schläfst du nicht?« fragte er sauer.
»Es war eine leichte Nachtwache«, erwiderte sie zufrieden. »Zwischen zwei und fünf konnte ich ein bißchen schlafen.« Sie stemmte die Hände in die Hüften. »Das Telefon hat geklingelt. Ich hab’s aber nicht mehr rechtzeitig geschafft.«
Andreas!
»Ich muß zum Arbeitsamt«, sagte Zipp und stand auf.
Sie
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