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Dunkler Wahn

Dunkler Wahn

Titel: Dunkler Wahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wulf Dorn
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anspielte.
    »Du hast jemanden über das Internet kennengelernt, stimmt’s?«
    Rudi strahlte.
    »Ihr Name ist Doris.«

    »Ist sie nett?«
    »Nett ist gar kein Ausdruck, Junge. Sie ist ein wahrer Engel. Seit meiner Margot, Gott hab sie selig, habe ich keine Frau mehr getroffen, mit der ich mich so gut verstanden habe. Und für ihr Alter sieht sie umwerfend aus. Ein wenig wie Brigitte Bardot, falls du die noch kennst, nur hübscher. Himmel, mich hat es ja so was von erwischt.«
    Jan sah ihn skeptisch an. »Aber ihr kennt euch bisher nur online, oder?«
    »Na und?«, sagte Rudi, und es klang beinahe trotzig. »Das ist doch nicht schlimm. Im Gegenteil, auf diese Weise lernt man erst einmal das wahre Wesen eines Menschen kennen, seine Art zu denken, ohne sich von irgendwelchen Äußerlichkeiten beeinflussen zu lassen. Für mich war das doch der beste Weg. Wenn ich bisher eine Frau getroffen habe, die ich interessant gefunden hätte, habe ich mich nicht getraut, sie anzusprechen. Welche Frau unterhält sich schon mit einem, der sich wie ein rostiges Scharnier anhört?«
    »Komm schon, Rudi, das ist doch …«
    »Nein, nein, nein«, wehrte er ab. »Was das betrifft, bin ich leidgeprüft. Wenn ich nur daran denke, wie ihr mich genannt habt, als ihr noch Kinder wart. Kannst du dich noch daran erinnern?«
    Natürlich erinnerte sich Jan. Sie hatten ihn »Kermit« genannt, wie den Frosch in der Muppet Show , denn genau so hörte sich Rudis Stimme nun einmal an.
    »Rudi, wir waren damals noch Kinder und …«
    »Ich weiß«, unterbrach er ihn wieder. »Deshalb war ich euch auch nicht böse. Und außerdem hattet ihr ja Recht. Aber genau das stand mir immer im Weg, Jan. Dabei habe ich das Alleinsein schon lange satt. Klar, früher hätte ich mir nie vorstellen können, dass es nach meiner Margot
noch einmal eine Frau für mich geben könnte, aber inzwischen habe ich mehr als die Hälfte meines Lebens als Witwer zugebracht. Ich will einfach nicht mehr. Ich sehne mich nach Nähe und Zuneigung, und bevor es mir so geht wie gestern dem alten Kröger …«
    Als Rudi den Namen des Polizisten erwähnte, horchte Jan auf. »Kröger? Wieso, was ist mit ihm?«
    »Ach so, das weißt du noch gar nicht«, sagte Rudi und senkte den Blick. »Traurige Sache. Ich hab es vorhin beim Bäcker erfahren. Der arme Kerl hatte letzte Nacht einen Herzinfarkt. Als seine Frau heute Morgen aufgewacht ist, lag er tot neben ihr.«
    Jan umfasste seine Tasse und dachte an seine letzte Unterhaltung mit Heinz Kröger, an den besorgten Blick des dicken Polizisten. So als hätte er geahnt, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb.
    »Nicht sehr nett vom lieben Gott«, sagte Rudi. »Er eröffnet für jeden von uns ein Zeitkonto, aber verrät uns nicht, mit welchem Guthaben. Und deshalb will ich jetzt noch einmal richtig leben . Kannst du das verstehen, oder höre ich mich wie ein verrückter alter Kerl an, der nicht akzeptieren will, dass sein Zug demnächst ebenfalls abfährt ?«
    »Nein, Rudi, das ist ganz und gar nicht verrückt. Du solltest nur aufpassen, dass du keine Dummheiten machst, das ist alles.«
    »Na, für diese Warnung ist es jetzt wohl ein bisschen zu spät.« Mit einem verschwörerischen Grinsen griff Marenburg in die Innentasche seiner Windjacke, die über der Stuhllehne hing. Er zog einen Umschlag hervor, auf dem in roten Buchstaben der Firmenname Ockermann World Travels prangte. »Ich werde Doris besuchen. Mein Flug geht heute Nachmittag um vier.«

    Jan machte große Augen. »Dein Flug?«
    »Die Kanaren«, sagte Rudi verheißungsvoll. »Da staunst du, was? Ihr Mann hat ihr eine Finca auf La Gomera hinterlassen. Dort lebt sie nun schon seit fast zehn Jahren.«
    »Nicht schlecht. Da hast du dir ja genau die richtige Jahreszeit ausgesucht. Und für wie lange willst du sie besuchen ?«
    »Erst mal nur für eine Woche. Dann muss ich kurz zurück, weil sich der Gutachtertermin für mein Haus nicht anders legen ließ …«
    »Du lässt dein Haus begutachten?« Jetzt war Jan wirklich baff.
    »Ja, vielleicht verkaufe ich es und ziehe auf die Kanaren. « Rudi lachte. »Ist das nicht herrlich? Endlich habe ich wieder etwas Glück in meinem Leben, und ich bin noch fit genug, es auszukosten.«
     
    Als sie sich wenig später an Jans Haustür verabschiedeten und Jan ihm zum hundertsten Mal versprochen hatte, sich um seine Blumen zu kümmern, sah Rudi ihn nachdenklich an.
    »Sag mal, Herr Doktor, in der Psychologie gibt es doch einen Ausdruck für das Verliebtsein,

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