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Dunkler Wahn

Dunkler Wahn

Titel: Dunkler Wahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wulf Dorn
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–, und jetzt, da der wichtige Teil des Abends vorüber war, würde er sich so bald wie möglich aus dem Staub machen. Er beschloss, noch eine Runde durch den Saal zu drehen, und dann war es gut für heute.
    Als er auf den Gang hinaustrat, traf er auf Julia Neitinger. Wie immer, wenn er ihr begegnete, musste er an einen seiner Patienten denken, der Jans neue Kollegin nur »Dr. Wow« nannte, ein nicht ganz ungerechtfertigter Spitzname für die blonde Ärztin. Vor allem heute Abend, wo sie sich für ein kurzes schwarzes Cocktailkleid entschieden hatte.
    Jan hatte Julia erst vor wenigen Wochen näher kennengelernt, als sie im Rahmen des ärztlichen Rotationsprogramms auf seine Station versetzt worden war. Er empfand sie als ein wenig eigentümlich und war mit ihr bisher noch nicht richtig warmgeworden. Dem Kantinenklatsch nach hatte sie ein Jahr vor ihrem Beginn in der Waldklinik eine Fehlgeburt erlitten und war kurz darauf von ihrem Mann verlassen worden. Wie es hieß, wegen einer deutlich Jüngeren, mit der er sogleich eine Familie gegründet hatte.

    Dieser Schlag hatte Julia offensichtlich schwer getroffen, wofür Jan volles Verständnis hatte. Dennoch war sie eine der wenigen Personen, die er nie recht einzuschätzen vermochte. Mal verhielt sie sich kollegial und freundlich, und dann konnte sie wieder kratzbürstig und abweisend sein.
    Nun stand sie mit schmerzverzerrtem Gesicht am Treppenabsatz, stützte sich gegen die Wand und betrachtete ihren angehobenen Fuß.
    »Verflixte Pumps«, sagte sie, als sie Jan auf sich zukommen sah.
    »Alles in Ordnung?«
    »Ich bin auf der letzten Stufe umgeknickt. Tut ziemlich weh. Wahrscheinlich werde ich in ein paar Minuten in keinen Schuh mehr passen.«
    »Du solltest den Fuß kühlen. Ich werde dir in der Zwischenzeit etwas zum Bandagieren holen.«
    »Das wäre nett.« Sie nickte in Richtung der Damentoilette. »Sag, könntest du mich stützen?«
    »Natürlich.«
    Jan legte einen Arm um sie, und sie humpelten gemeinsam in den Waschraum. Er führte sie zu den Waschbecken und half ihr, sich auf die Ablage zu setzen, so dass sie den Fuß in eines der Becken stellen konnte.
    »Danke, mein Retter«, lächelte sie und streifte sich den halterlosen Strumpf vom Bein. Dann deutete sie auf den Wasserhahn. »Würdest du ihn bitte aufdrehen?«
    Jan ließ kaltes Wasser über ihren Knöchel laufen, woraufhin sie einen unterdrückten Schrei ausstieß. »Himmel, ist das kalt!«
    »Aber es wird helfen«, entgegnete Jan und betrachtete ihren Fuß. »Ist keine Schwellung zu erkennen. Kannst du ihn bewegen?«

    Sie wackelte mit den Zehen und nickte. »Ja, tut schon gar nicht mehr so weh.«
    Jan nickte. »Ich glaube, das ist noch einmal gutgegangen. «
    Er sah zu ihr auf, und ihr Lächeln hatte sich verändert – auf eine Art, die ihm nicht geheuer war. Julia deutete mit dem Kinn auf ihr Bein und strich mit der Hand darüber.
    »Gefällt dir, was du siehst?«
    Nun begriff Jan, was es mit dem umgeknickten Knöchel auf sich hatte. Er schüttelte seufzend den Kopf und ging zur Tür. »Nach dieser Wunderheilung wünsche ich dir noch einen schönen Abend.«
    Hastig zog sie den Fuß aus dem Becken und sprang auf.
    »Jan, bitte warte!«
    Auf einmal schien jegliche Selbstsicherheit aus ihrem Blick gewichen. Nun war sie nicht mehr Dr. Wow, sondern eine Frau, die sich selbst bei einer Dummheit ertappt hatte.
    »Es tut mir leid, Jan, hörst du? Entschuldige bitte. Es ist nur … ach, ich habe wohl zu viel getrunken.«
    Er nickte und zog die Tür auf. »Ist schon vergessen. Aber mach das nie wieder.«
    Sie senkte den Blick und betrachtete ihren nackten Fuß. »Danke. Es tut mir wirklich leid. Ich weiß nicht, welcher Teufel mich geritten hat.«
    Jan entgegnete nichts. Zurück auf dem Flur, beschloss er, auf die abschließende Runde durch den Saal zu verzichten.

11
    Wenig später eilte Jan über den Parkplatz vor dem Klinikfestsaal. Im strömenden Regen glich der Asphalt einem schwarzen See, in dem die Spiegelungen der Weglampen wie Leuchtbojen schimmerten.
    Als er seinen Wagen erreicht hatte und nach dem Autoschlüssel suchte, fiel ihm auf, dass etwas unter seinem Scheibenwischer klemmte. Eine transparente Plastikhülle, in der ein brauner Briefumschlag steckte. Eilig stieg er in seinen Wagen, wischte sich den Regen aus dem Gesicht und zog den Umschlag aus der Plastikumhüllung.
    Auf Vorderseite stand sein Name in kindlichen Großbuchstaben. Das Kuvert war zugeklebt, und Jan betastete den Inhalt. Es fühlte

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