Dunkler Wahn
einfach mit jemandem darüber sprechen. Sonst … sonst zerreißt es mich.«
Thanner nickte, auch wenn sie ihn nicht sehen konnte. Ihm fiel die Christophorus-Statue ein. Ob diese Frau das Kerzenmeer in der Kapelle entzündet hatte? Gut möglich. Und ebenso möglich war es, dass sie die Geliebte des Mannes war, der ihm vergangene Woche seinen Ehebruch gebeichtet hatte. Denn auch er war zum ersten Mal zur Beichte erschienen. So wie diese Frau.
»Meine Schwester, du kannst hier offen sprechen«, ermutigte er sie. »Hier hört dich niemand außer Gott.«
Wieder das Atmen. Diesmal klang es erschöpft, so als trüge diese Frau eine unerträglich schwere Last und sei am Ende ihrer Kräfte angelangt.
Thanner war sich nun ziemlich sicher, dass sie in der Kapelle gewesen war. Christophorus hatte alle Last der
Welt auf seinen Schultern getragen, bis Gott ihm erschienen war und ihn erlöst hatte.
Ja, dachte er, das hatten die Lichter und der Schal zu bedeuten gehabt. Es war ein erster Hilferuf gewesen, und nun war sie hier.
»Ich … ich …« Er hörte sie schlucken. »Ich habe die schlimmste Sünde von allen begangen. Ich … Nein, ich kann nicht!«
Sie stand auf, und wie ein Windhauch wehte ein Duft zu Thanner in die Kabine. Ein schwaches Parfüm, das ihn an eine Blumenwiese denken ließ. Doch aus einem unerklärlichen Grund schien es mit einem Mal kälter im Beichtstuhl geworden zu sein. Fast so, als sei die Last dieser Frau ein gewaltiger Eisbrocken, dessen Kälte er auf der dunklen Seite des Gitters spüren konnte.
Natürlich war das nur Einbildung, schalt er sich sogleich. Die Kälte rührte von nichts anderem als dem Wind her, der durch den zugigen Kirchenbau wehte. Obendrein war der junge Pfarrer seit jeher ein schlaksiges Leichtgewicht, dem selbst im dicksten Pullover schnell kalt wurde. Und dennoch beschlich ihn plötzlich eine merkwürdige Ahnung. Vielleicht war es auch nur ein Instinkt, der sich im Lauf zahlreicher Beichten bei ihm entwickelt hatte.
»Geh nicht«, sagte er, obwohl er plötzlich feststellte, dass etwas in ihm wollte , dass sie ging. Dasselbe Etwas, das die Stimme seines Instinkts sein musste, sagte ihm auch, dass es keine Scham war, die diese Frau in die Flucht trieb. Kein Ehebruch war so schlimm, dass man ihn nicht beichten konnte – erst recht nicht in einer Zeit, in der selbst unter seinen Schützlingen eine Unbekümmertheit herrschte, die seinen Amtsvorgängern noch blankes Entsetzen verursacht hätte.
Nein, diese Frau belastete etwas anderes.
Etwas Dunkles.
Etwas … Böses .
»Geh nicht«, wiederholte er. »Wenn es dich wirklich zu zerreißen droht, dann ist hier der Ort, an dem du Hilfe finden wirst.«
Die Frau hatte die Tür bereits einen Spalt geöffnet. Nun hielt sie inne und schien zu überlegen. Wieder war nur das schwache Wimmern des Windes zu hören.
Dann zog sie die Tür wieder zu und sank erneut auf die Knie. Felix Thanner fröstelte.
»Ich hatte keine andere Wahl«, flüsterte sie. »Ich musste es tun, um mich zu retten. Ich habe keinen anderen Ausweg gesehen … weil es keinen anderen Ausweg gab .«
»Was hast du getan?«, fragte Thanner, obwohl er sicher war, dass er die Antwort darauf nicht hören wollte. Er fürchtete sich vor dieser Frau, auch wenn ihm noch nicht klar war, warum. Es war nur diese dunkle Ahnung, und vielleicht trog sie ihn.
Vielleicht aber auch nicht.
Doch trotz aller Befürchtungen musste er diese Frau zur Beichte ermutigen, ganz gleich, wie er sich selbst dabei fühlte. Immerhin war das sein Auftrag. Er war nun ihr Sprachrohr zu Gott.
»Sag, Schwester, welche Sünde belastet dich so sehr?«
Sie zögerte kurz, dann kam die Antwort, kurz und kalt.
»Ich habe getötet.«
Felix Thanner fuhr zusammen. Er hatte geahnt, dass sie dies sagen würde. Was sonst sollte sie derart belasten, dass sie es beinahe nicht über die Lippen gebracht hätte?
»Ich habe einen Menschen getötet«, wiederholte sie. »Und er war nicht der erste.«
Thanner rang um Fassung. Zwar hatte man ihn während des Priesterseminars auf die Situation vorbereitet,
dass ihm ein Verbrechen gebeichtet werden könnte, aber es nun tatsächlich erleben zu müssen, war etwas ganz anderes.
Diese Frau hatte eine Todsünde begangen. Natürlich war streng genommen auch Ehebruch eine Todsünde, aber Mord … das war wirklich etwas anderes.
»Vor ihm gab es noch einen.« Sie redete mit kaum hörbarer Stimme weiter. Es war, als habe sie jetzt die Barriere überwunden, die sie hatte
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