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Dunkler Wahn

Dunkler Wahn

Titel: Dunkler Wahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wulf Dorn
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stammt.«
    Nachdenklich sah Jan das Bild an. Er hatte selbst schon diesen Gedanken gehabt, auch wenn es nur ein Gefühl gewesen war, das er nicht hätte begründen können.
    »Woran machst du das fest?«
    Es hatte wieder zu regnen begonnen, und draußen trieb der Wind einen prasselnden Regenschwall an die Fensterfront.
    »Nun ja, es sind vor allem die Proportionen«, sagte Franco. »Die meisten Kinder in diesem Alter würden ihre Figuren unproportional darstellen. Ihnen fehlt noch der rationale Bezug zum eigenen Körper, und das spiegelt sich in ihren Zeichnungen wider. Figuren, die von Kindern gezeichnet werden, haben oft zu lange oder zu kurze Extremitäten, oder die Köpfe stehen im falschen Verhältnis zum Rest des Körpers. Vor allem dann, wenn das Bild nicht gerade von besonders großem künstlerischen Talent zeugt, wie es hier der Fall ist.« Wieder betrachtete Franco die Zeichnung, als lese er einen Text. »Ich schätze, dass die Künstlerin eine Jugendliche, wenn nicht sogar eine Erwachsene ist. Aber sie möchte, aus welchem Grund auch
immer, dass sie der Betrachter ihres Bildes für ein Kind hält. Sie hat sich sehr viel Mühe gegeben, diesen Eindruck zu erwecken, aber genau dadurch hat sie sich verraten. Schau dir mal die Linien genauer an. Kein sechsjähriges Kind würde so gleichmäßig aufdrücken. Zumindest keines, das ich kenne. Dafür sind kleine Kinder zu ungeduldig. Tatsächlich muss man sich Zeit lassen, um einen so einheitlichen Druckpunkt auf den Stift hinzubekommen. Auch sind alle Farbflächen pedantisch ausgefüllt worden und nicht schraffiert, wie Kinder es gerne machen. Das könnte auf eine zwanghafte Persönlichkeit hinweisen.«
    Jan runzelte die Stirn. »Du sprichst von einer Künstler in . Was macht dich so sicher, dass eine Frau das Bild gezeichnet hat?«
    Franco nahm die Brille ab und tippte mit dem Bügel auf das Mädchen, das auf der Schulter des Riesen saß. »Weil ich wetten würde, dass sie das selbst ist. Dieses rote Kleid schreit einem doch förmlich zu: ›Hallo, hier bin ich!‹, oder? Und man muss auch nicht lange raten, wer der Riese sein soll.« Franco sah Jan an und grinste. »Nur dass ich dich noch nie so habe lachen sehen.«
    Jan konnte auf diesen Scherz nicht eingehen. Auch er hatte sich in der Darstellung des Riesen wiedererkannt. Die Statur und das Gesicht hätten zu vielen dunkelhaarigen Männern passen können, aber die Geste der freien Hand des Riesen verriet, dass es sich um Jan handeln sollte.
    Es war eine typische, wenn auch unbewusste Jan-Forstner-Haltung. Der Arm war leicht angewinkelt und die Hand mit dem Daumen in der Vordertasche seiner Jeans eingehakt. So tat es Jan häufig, wenn er nicht wusste, wohin mit seinen freien Händen. Das konnten zahlreiche Fotos belegen, die bis in seine Kindheit zurückreichten, und ihm selbst fiel es stets dann auf, wenn er Anzughosen
mit längs aufgesetzten Taschen trug – so wie zum Beispiel gestern auf dem Empfang, als er froh gewesen war, ein Glas in der Hand halten zu können.
    Aber selbst wenn Jan noch immer gezweifelt hätte, dass er mit diesem Bild gemeint war, verriet ihn die Armbanduhr des Riesen. Entgegen der üblichen Gebräuchlichkeit trug er sie rechts, wie auch Jan seine Uhr am rechten Arm trug, weil es ihm praktischer erschien.
    Diese Geste und die Uhr waren es, die ihn an diesem Bild am meisten beunruhigten. Wer immer es auch gezeichnet haben mochte, war ein aufmerksamer Beobachter. Jemand mit einem feinen Blick für Details. Und falls es in der Absicht dieses Jemand gelegen haben sollte, Jan damit zu beeindrucken, war es ihm – oder vielmehr ihr – gelungen. So sehr, dass das Bild Jan sogar bis in seine Träume verfolgt hatte.
    Natürlich hast du Angst vor uns!
    Denn da war noch etwas an diesem Bild. Es war nichts, was Jan genau hätte erklären können. Vielmehr war es ein Gefühl, ausgelöst durch etwas, das irgendwo zwischen diesen Strichen und ausgemalten Flächen lauerte. Etwas, das nicht greifbar war. So wie die Künstlerin selbst.
    »Aber was kann das zu bedeuten haben, Franco? Ich meine, warum spielt mir jemand so ein Bild zu?«
    »Du weißt nicht, von wem es ist?«
    »Nein, der Umschlag steckte gestern Nacht unter meinem Scheibenwischer, als ich aus der Spendenveranstaltung kam.«
    »Das ist merkwürdig. Aber es belegt natürlich meine These vom Alter dieser Frau. Kein Kind würde sich nachts auf dem Klinikgelände herumtreiben. Jedenfalls meine Kinder nicht. Die sind um diese Zeit im Reich der

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