Dunkler Wahn
denn nun bog das Licht um die Ecke, und sie sah, wer es trug. Mit einem Schrei sprang sie auf und ließ den Stein fallen.
Jan, es war Jan! Er hatte sie gefunden. Endlich!
Sie lief zu der Gittertür, rief immer wieder seinen Namen, und er lächelte sie an.
»Hier.« Er reichte ihr etwas durch das Gitter. Sie sah den goldenen Schlüssel auf seiner Handfläche. Er leuchtete wie der wertvollste Schatz der Welt. »Ich bin gekommen, um dich zu befreien.«
»Das weiß ich«, rief sie erregt. »Ich habe es immer gewusst. «
Dann war Jan verschwunden, ebenso der Schlüssel. Das Gefängnis war noch da, aber nicht als düsterer Keller, das wusste sie – jetzt, wo sie wieder wach war. Das Gefängnis war noch da, weil es sich in ihrem Kopf befand.
Aber das war nicht weiter schlimm, denn es gab einen, der den Schlüssel dazu besaß. Lächelnd sah sie zur Decke, betrachtete die Schatten der Äste, die im Mondlicht tanzten, und lauschte dem leisen Prasseln der Regentropfen.
»Bald«, flüsterte sie den Schatten zu. »Bald. Und dann für immer.«
16
Felix Thanner ging in der Küche auf und ab und rieb sich die Hände. Ihm war kalt, auch wenn Edith Badtke wie immer dafür Sorge getragen hatte, dass das Pfarrhaus gut geheizt war. Dass er dennoch fror, hatte einen anderen Grund. Es war ein Frösteln, das drei Worte in ihm auslösten, die ihm keine Ruhe mehr ließen.
Ich habe getötet.
Ein Satz, der wie ein Echo in ihm nachklang.
Er hatte letzte Nacht kaum geschlafen, und seine Augen brannten vor Müdigkeit. Die meiste Zeit hatte er vor seinem Laptop verbracht, um sich Gewissheit zu verschaffen, dass er nicht der Wahnidee einer Geistesgestörten aufgesessen war. Immerhin wäre es nicht das erste Mal gewesen, dass jemand Sünden beichtete, die er nur in seiner Vorstellung begangen hatte, und Thanner hatte gehofft, dass das auch auf diese Frau zutraf.
Sie konnte aus den Medien von dem Mord an dem Journalisten erfahren und sich dieses Verbrechens beschuldigt haben, weil ihr irgendeine Wahnstimme das einredete. So etwas kam vor. Er hatte es zwar noch nicht selbst erlebt, aber während seines Priesterseminars hatte er einmal von einem solchen Fall gehört. Der Leiter – ein älterer Geistlicher, der es sichtlich genossen hatte, die jungen Priesteramtskandidaten an seinem langjährigen Erfahrungsschatz teilhaben zu lassen – hatte von einem Mann erzählt, der mehrere Vergewaltigungen gebeichtet
hatte. Vergewaltigungen, die nie stattgefunden hatten. Denn abgesehen davon, dass es sämtlichen der genannten Frauen bestens ging, wäre es schon allein deshalb nicht möglich gewesen, da dieser Mann querschnittsgelähmt gewesen war, hatte der Dozent erklärt. Die Beichte sei für ihn zu einer Art Ventil seiner sexuellen Fantasien geworden, die sich zu einer krankhaften Besessenheit entwickelt hatten – so sehr, dass er überzeugt gewesen war, sich tatsächlich an diesen Frauen vergangen zu haben.
Einer der Seminaristen hatte gefragt, was aus dem Mann geworden sei, woraufhin sie erfuhren, dass der Mann wenig später in die Psychiatrie eingewiesen worden war, nachdem er nicht nur in der Beichte über seine Wahnvorstellungen gesprochen hatte.
Doch was die Frau von gestern betraf … Thanner schüttelte den Kopf. Nein . Nein, sie hatte nicht fantasiert, auch wenn sie zweifellos ebenfalls eine Kandidatin für die Psychiatrie war.
Sosehr er sich auch innerlich dagegen sträubte, wusste er doch, dass sie die Wahrheit gesagt hatte. Davon war er inzwischen überzeugt.
Sie hatte von zwei Morden gesprochen, und mit einem der Opfer hatte sie Nowak gemeint, da war sich Thanner sicher. Zudem wusste er nun auch, wen sie vor dem Journalisten getötet hatte. Schon während ihrer Unterhaltung im Beichtstuhl hatte er eine Vermutung gehabt, nachdem sie ihm ein Stichwort gegeben hatte. Ihr erstes Opfer war homosexuell gewesen.
Je länger er darüber nachgedacht hatte, desto klarer war ihm geworden, wen sie meinte. Also hatte er das Internet nach Berichten durchsucht. Und schließlich war er fündig geworden.
Thanner hatte das Opfer gekannt – nicht besonders
gut, aber gelegentlich waren sie sich begegnet. Der Mann hatte Matthias Lassek geheißen, und seine Ermordung lag etwas mehr als anderthalb Jahre zurück.
Es war Anfang Mai gewesen, daran konnte sich Thanner noch sehr gut erinnern. Die Presse hatte vom »gelben Mai« gesprochen, da es aufgrund einer längeren Trockenphase zu enormen Wolken aus Blütenstaub gekommen war. Ein Umstand, der für
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