Dunkler Wahn
niemandem davon erzählen darfst«, sagte sie schließlich. »Selbst wenn man dich deswegen foltern würde, musst du schweigen.«
»Natürlich weiß ich das. Das Beichtgeheimnis ist heilig. «
»Wollen wir um deiner Seele willen hoffen, dass du das nie vergisst«, zischte sie, dann eilte sie zum Ausgang.
Thanner hörte ihre Schritte und wie sie das Portal öffnete.
»Ich kann dir helfen!«, rief er ihr nach, wagte es aber immer noch nicht, den Beichtstuhl zu verlassen.
Er hörte sie etwas sagen. Sie war zu weit entfernt, um sie deutlich zu verstehen, aber Thanner glaubte ein »Vielleicht« zu hören. Dann fiel die schwere Kirchentür ins Schloss, und Thanner blieb allein zurück.
Um ihn herum hing der schwere Geruch der Sünde, der nun unerträglich geworden war. Thanner würgte, riss die
Kabinentür auf, schaffte es gerade noch hinaus und übergab sich auf den Steinboden.
14
Die Nachtschicht verlief ruhig, so dass Jan gegen Mitternacht eine Pause einlegen und die Kantine aufsuchen konnte, die zu dieser Zeit jedoch weniger Kantine denn Aufenthaltsraum war.
Der Saal mit den weißen Plastiktischen wirkte verlassen und trostlos. Wo sonst während der Mittagszeit lautes Stimmenwirrwarr schallte, herrschte nun ungemütliche Stille wie in einer Kirche. Auch die Dekoration aus Zierkürbissen und Herbstlaub auf gelben Tischsets konnte die sterile Kälte nicht aus dem Raum vertreiben.
Gleich neben dem Getränkeautomaten unterhielten sich zwei Krankenschwestern mit gedämpften Stimmen. Sie hatten sich dabei über den Tisch gebeugt, als würden sie eine Verschwörung aushecken.
Jan entdeckte Dr. Franco Spadoni am anderen Ende des Saales. Er saß vor der großen Fensterfront, die auf den nachtschwarzen Klinikpark hinauszeigte, hatte den dunklen Lockenkopf auf die Faust gestützt und stocherte in Gedanken versunken in einem Stück Kuchen herum. Beim Anblick seines Kollegen musste Jan an eines der einsamen Gemälde von Edward Hopper denken. Dieses hier hätte mit Nachtschicht statt Nachtfalken betitelt sein können.
Erst als Jan sich zu ihm setzte, hob Franco den Kopf. Er machte den Eindruck, als habe Jan ihn aus einer anderen
Welt zurückgeholt. Der Schichtdienst schien ihm zuzusetzen. Er war unrasiert und hatte Augenränder, als habe er seit einigen Nächten nicht mehr richtig geschlafen.
»Das ist aber eine Überraschung«, sagte Franco. »Ein seltener Besucher in unserem Kulinarium. Na, dann sei gewarnt, Kollege, der Marmorkuchen macht seinem Namen alle Ehre. So lange kannst du gar nicht Pause machen, um diesen Brocken im Kaffee einzuweichen.«
»Danke für den Tipp, aber so verzweifelt bin ich noch nicht, um unseren Kantinenkuchen zu essen. Ich wollte dich sprechen. Auf der Station haben sie mir gesagt, dass du hier bist.«
Seufzend legte Franco die Gabel beiseite. »Ja, ich hatte plötzlich einen Heißhunger auf Marmorkuchen. War eindeutig ein Fehler.«
Jan sah ihn prüfend an. »Alles in Ordnung mit dir? Du wirkst so …«, er suchte nach dem richtigen Wort, »so niedergeschlagen.«
»Ach, es geht schon.« Franco machte eine abwehrende Handbewegung. »Ein paar kleine eheliche Unstimmigkeiten. Muss wohl an diesem Mistwetter liegen. Das schlägt nicht nur unseren Patienten aufs Gemüt. Hat es einen bestimmten Grund, warum du nach mir gesucht hast?«
»Ich wollte dich bitten, dir etwas anzusehen.«
»Nur zu. Ich hoffe, es ist etwas, das mich aufmuntert?«
»Das gerade nicht, aber es fällt zumindest in dein Fachgebiet. «
Jan zog das Kuvert, das er unter dem Scheibenwischer gefunden hatte, aus seiner Kitteltasche und reichte es ihm. Franco schob den Kuchen von sich, nahm die Zeichnung heraus und strich sie auf der Tischplatte glatt.
»Wer hat das gezeichnet? Eine Patientin für die neue Kinderstation ?«
»Lass mich zuerst hören, was der Kunsttherapeut darüber denkt, dann sage ich dir, was es damit auf sich hat.«
»Na gut.« Franco setzte eine Lesebrille auf und zog das Bild zu sich heran. Für eine Weile betrachtete er schweigend die Blumenwiese mit der Strichsonne und dem Strichriesen, der das kleine Mädchen auf der Schulter trug. Dann schüttelte er den Kopf und sah Jan über den Rand seiner Brille hinweg an.
»Also, wenn du mich fragst, dann hat das kein Kind gezeichnet.« Er tippte auf das Blatt. »Auf den ersten Blick könnte man zwar meinen, das sei vielleicht von einem sechs- bis achtjährigen Kind, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass es von einer deutlich älteren Person
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