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Dunkler Wahn

Dunkler Wahn

Titel: Dunkler Wahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wulf Dorn
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rüttelte an dem Tor, doch es war verschlossen.
    »He, Sie da! Wenn Sie rauswollen, der Ausgang ist am anderen Ende.«

    Jan wandte sich zu der Stimme um. Sie gehörte zu einer zerknautschten Erscheinung, die mehr an einen Obdachlosen als an einen Friedhofsgärtner oder einen Totengräber erinnerte. Doch Jan kannte den Mann, wenn auch nur vom Sehen.
    Heinrich Pratt war ein echtes Fahlenberger Urgestein. Er hatte schon für die Gemeinde gearbeitet, als Jan noch zur Schule gegangen war. Seither hatte die Zeit deutliche Spuren an Pratts Erscheinung hinterlassen. Das einstmals junge Gesicht mit den markanten Pockennarben schaute nun wie ein welker Lederapfel unter der Kapuze seiner abgewetzten Regenkleidung heraus, und soweit Jan erkennen konnte, war er inzwischen gänzlich ergraut.
    »Ist dieses Tor immer abgeschlossen?«, fragte Jan.
    Pratt nickte. »Ja, immer. Außer ich muss zum Container. Da hinten ist sowieso nur die Zufahrt für das Müllfahrzeug. Warum wollen Sie das wissen?«
    »Und wer außer Ihnen hat einen Schlüssel dafür?«
    Pratt sah ihn argwöhnisch an. »Ich wüsste nicht, was Sie das angeht.«
    Jan entschied sich zu einer Notlüge. »Nun ja, ich habe gestern Abend ein Gesteck auf ein Grab gelegt, und heute Morgen war es weg. Also muss es jemand über Nacht entwendet haben, und mich interessiert, wer außer Ihnen Zugang zum Friedhof hat.«
    »Das kann nicht sein«, entgegnete Pratt energisch. »Außer meinem Schlüssel gibt es nur noch den im Pfarrhof. Und für Edith Badtke lege ich beide Hände ins Feuer, wenn’s sein muss. Oder wollen Sie etwa mir unterstellen, dass ich Ihr Gesteck geklaut habe?«
    »Nein, nein«, wehrte Jan ab. »Aber vielleicht gibt es ja noch einen versteckten Zugang? Eine Öffnung in der Mauer, durch die der Dieb eingedrungen sein könnte?«

    Pratt stemmte die Fäuste in die Hüften und schüttelte den Kopf. »Gibt es nicht, davon wüsste ich. Und jetzt muss ich weiter. Die Arbeit erledigt sich schließlich nicht von selbst. Wenn Sie Anzeige erstatten wollen, gehen Sie zur Polizei. Aber lassen Sie mich damit in Frieden. Ich habe Ihr Gesteck nicht angerührt.«
    Mit mürrischem Schnauben wandte er sich um, stapfte zu seiner Schubkarre und schob sie davon.
    Seltsam, dachte Jan. Wenn an jenem Abend tatsächlich eine Frau auf dem Friedhof gewesen war und ihn nicht zusammen mit den Nowaks verlassen hatte, dann musste sie hier die ganze Nacht über eingesperrt gewesen sein. Vorausgesetzt, sie hatte keine Leiter dabei gehabt, um die Friedhofsmauer zu übersteigen. Zwar gab es im vorderen Bereich einige niedrigere Stellen, aber darauf war ein hoher schmiedeeiserner Gitterzaun angebracht. Sie hätte hinüberklettern müssen. Dafür hätte sie aber schon sehr sportlich sein müssen und überaus geschickt – wenn man die scharfen Messingspitzen des Zauns betrachtete.
    Vor allem aber stellte Jan sich die Frage, was die Frau spätabends auf dem Friedhof gewollt hatte. Sie hätte doch jederzeit am Tag herkommen können.
    Außer, sie hätte etwas zu verbergen gehabt. Aber was?

21
    Die Regenfront hielt sich hartnäckig. Wie der Wetterdienst berichtete, hatte sich ein aus Skandinavien kommendes Tiefdruckgebiet über dem Südwesten Deutschlands festgesetzt, wo es beharrlich seine schwarze Wolkenlast
entlud. Dennoch war Jan gleich nach seiner Rückkehr nach Hause zu einem Spaziergang aufgebrochen. Die Bewegung im Freien half ihm, seine Gedanken zu ordnen.
    Während der kalte Wind an seinem Schirm zerrte, nasses Laub umherwirbelte und die Bäume im Fahlenberger Stadtpark wie gemächlich tanzende Riesen wiegte, dachte Jan an Agnes Nowak und den Geist, den sie auf dem Friedhof zu sehen geglaubt hatte.
    Die Erscheinung auf dem Friedhof musste eine Frau aus Fleisch und Blut gewesen sein, sonst hätte Volker sie nicht verfolgt. Aber wer war sie?
    Vor allem beschäftigte ihn die Frage, ob es da einen Zusammenhang gab: Waren die Frau vom Friedhof, die Frau, mit der Nowak kurz vor seiner Ermordung gestritten hatte, und die Frau, die Jan Blumen und die beunruhigende Kinderzeichnung geschickt hatte, möglicherweise ein und dieselbe? Handelte es sich um eine geistig gestörte Person, und hatte Nowak deshalb Jans professionelle Meinung wissen wollen?
    Wenn es so war, in welchem Verhältnis hatte Nowak zu dieser Frau gestanden? Immerhin musste er sie gekannt haben. Aber woher?
    Und warum hatte er seine verwirrte Mutter belogen, bis diese an einen Geist glaubte? Um sie vor dieser mysteriösen Unbekannten zu

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