Dunkler Wahn
etwas übersehen , sagte dieses Gefühl. Etwas sehr Wichtiges. Der eigentliche Grund , der dich hierhergeführt hat. Es ist nicht der Bischof gewesen. Es war etwas anderes .
Für einen Augenblick dachte Thanner, es sei seine pure Verzweiflung, gepaart mit der irrigen Hoffnung, der Bischof würde es sich doch noch einmal anders überlegen und ihm mehr Hilfe anbieten, als nur an seinen Glauben an die Gerechtigkeit Gottes zu appellieren.
Sieh genauer hin. Etwas ist hier, das du schon so oft gesehen hast. Und jetzt ist es wichtig!
Sein Blick schweifte über die in Goldrahmen gefassten
Heiligenbilder, die sich an der Wand hinter Bischof Hagens Schreibtisch reihten. Der Bischof war ein leidenschaftlicher Sammler sakraler Kunst und diese Bildergalerie sein großer Stolz, wie er vor einiger Zeit in einem Interview mit der Kirchenzeitung betont hatte.
Einige der Gemälde waren sehr alt. Sie zeigten Afra von Augsburg, den heiligen Antonius, den heiligen Georg im Kampf mit dem Drachen und … Christophorus mit dem Christuskind auf der Schulter.
Ja, das ist es!
Thanner durchfuhr es heiß und kalt. Das war es gewesen, wonach er Ausschau gehalten hatte. Nun verstand er, weshalb ihn diese innere Stimme nicht hatte gehen lassen wollen – und ja, vielleicht war es tatsächlich ein Wink des Herrn, der den Verzweifelten Hilfe bot.
»Hören Sie nicht, Felix?«
Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass der Bischof ihn angesprochen hatte.
»Ich habe Sie gefragt, ob noch etwas sei.«
Thanner nickte. »Als Beichtpriester kann ich ihr nicht helfen. Aber als Seelsorger sehr wohl.«
Bischof Hagen sah skeptisch zu ihm auf. »Sofern sich die Frau an Sie in dieser Funktion wendet, ja. Aber nur dann. Hat sie es denn getan?«
Wieder betrachtete Thanner das Christophorus-Gemälde und dachte an die Statue in der Seitenkapelle. An das Kerzenmeer und den roten Schal, der das Kind zu einem Mädchen gemacht hatte. »Indirekt schon.«
Die Frau hatte nicht mit Worten um seine Hilfe gebeten, aber dennoch hatte sie sich auch außerhalb des Beichtstuhls an ihn gewandt. So war diese Audienz doch nicht vergeblich gewesen, dachte er.
Als sich Felix Thanner wenig später in den stockenden Nachmittagsverkehr einfädelte, beobachtete er die Menschen am Straßenrand.
Er dachte an die Unbekannte und den Mann, auf den sie es abgesehen hatte. Sie waren wie die Passanten auf dieser Straße. Zwei Menschen, von denen er so gut wie nichts wusste.
Aber vielleicht würde sich das bald ändern. Denn je länger er über seinen Einfall – oder seine Eingebung, wer konnte das schon sagen? – nachdachte, desto zuversichtlicher wurde er.
Es gab einen Weg, herauszufinden, wer die Frau war. Auch wenn sich Thanner nicht zu hundert Prozent sicher sein konnte, dass es tatsächlich funktionieren würde, aber es war immerhin eine Möglichkeit. Und er würde damit nicht gegen die Regeln verstoßen.
Doch als er so dahinfuhr, kam ihm noch ein anderer Gedanke, der ihm weit weniger gefiel. Diese Frau hatte mindestens zweimal seine Kirche aufgesucht. Sie hatte Thanner mit der Statue ein Zeichen gegeben und ihn im Beichtstuhl angesprochen, um sich seiner Verschwiegenheit sicher zu sein. Was, wenn er selbst der Mann war, auf den sie es als Nächstes abgesehen hatte?
20
Jan öffnete den Regenschirm, den er stets im Kofferraum seines alten VW Golf mit sich führte, und betrat den Fahlenberger Friedhof durch das schmiedeeiserne Tor. Während er die kastaniengesäumte Allee zur Leichenhalle entlangging
und der Kies unter seinen Schuhen knirschte, dachte er über die Geschichte nach, die Agnes Nowak ihm erzählt hatte.
Es war eine rätselhafte Geschichte gewesen. Sie hatte ihn an die alten Schauergeschichten erinnert, die er als Junge heimlich unter der Bettdecke gelesen hatte. Romane und Geschichten von E. T. A. Hoffmann, Edgar Allan Poe, Wilkie Collins oder Bram Stoker. Damals hatte er noch an Geister geglaubt, an übersinnliche Phänomene, an die Art von Erscheinungen, wie Agnes Nowak sie ihm geschildert hatte. Aber heute war er erwachsen. Er war ein rational denkender Mensch, der gelernt hatte, dass Gespenster, Geisterstimmen und Spukphänomene Produkte der menschlichen Fantasie waren. Sie waren Halluzinationen oder Fehlinterpretationen von einfachen realen Gegebenheiten. Die Tatsache, dass man sie mit dem Jenseits in Verbindung brachte, begründete sich in der Furcht vor der eigenen Sterblichkeit und der Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod.
Jan hatte inzwischen viel zu viele
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