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Dunkler Wahn

Dunkler Wahn

Titel: Dunkler Wahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wulf Dorn
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aufsah.
    Das Mitgefühl, das sie in diesem Augenblick empfand, war überwältigend. Sie und dieser kleine Vogel waren sich so ähnlich. Sie litten beide unter Qualen, jeder auf unterschiedliche Weise und doch irgendwie gleich.
    Wieder piepte der Vogel und versuchte aus der Nässe des Rinnsteins auf den Bürgersteig zu hüpfen, nur um gleich wieder flatternd abzurutschen.
    »Du armes, kleines Ding«, flüsterte sie sanft, und als könnte der Vogel sie verstehen, hielt er in seinem Flattern inne und sah wieder zu ihr auf.
    Sie erkannte die Hoffnung in seinen Augen und wurde erneut von diesem tiefen Mitleid überflutet – Mitleid, wie es nur Heulsusen empfanden.
    Sie lächelte dem Vogel zu.
    Dann zertrat sie ihn.

TEIL 2
BEGEHREN

    »Here she comes.
Call 9-1-1.
This girl’s a monster. «
    »9-1-1« BLUEBOB

23
    »So weit alles klar?«
    Mit einer gewichtigen Geste schloss Matthias Weingand die Reißverschlüsse der beiden Taschen und sah Felix Thanner an. »Ist doch eigentlich ganz easy, oder?«
    Der Pfarrer nickte.
    »Danke, Matt. Ich glaube, ich habe alles verstanden.«
    »Cool.« Der Ministrant grinste. Dem Dreizehnjährigen schien es zu gefallen, dass Thanner ihn mit seinem Spitznamen ansprach, wie es sonst nur seine Freunde taten. »Dann wissen Sie ja jetzt Bescheid. Reicht übrigens völlig, wenn Sie mir das Zeug irgendwann nächste Woche wieder zurückgeben. Aber seien Sie bloß vorsichtig damit. Mein Dad killt mich, wenn da was kaputtgeht.«
    »Ich verspreche hoch und heilig, dass ich darauf achten werde wie auf meinen Augapfel.«
    Matt schob die Hände in die Hosentaschen und nickte, lässig wie immer. »Klar, ich mach mir da bei Ihnen auch keine Sorgen. Aber mein Dad wollte, dass ich Ihnen das sage.«
    »Verstehe.«
    »Was haben Sie eigentlich damit vor?«
    Thanner hatte diese Frage erwartet. »Nur ein kleines Experiment. Nichts Wichtiges.«
    »Aha«, machte der Junge. »Also falls Sie damit zufrieden sind, kann ich mit meinem Dad reden. Der macht Ihnen bestimmt einen Freundschaftspreis. Kommt demnächst sowieso das Nachfolgemodell raus.«

    »Das ist nett«, entgegnete Thanner, »aber ich hoffe, ich werde sie nur dieses eine Mal brauchen.«
    Er wich Matts fragendem Blick aus, bedankte sich nochmals für die schnelle und unkomplizierte Hilfe, und dann bereiteten sie die Morgenandacht vor.
     
    Nach der Andacht holte Felix Thanner die beiden Taschen aus der Sakristei, vergewisserte sich, dass er wirklich allein in der Kirche war, und stieg dann zur Empore hinauf. Oben angekommen, nahm er das Stativ und den Camcorder aus den gepolsterten Umhüllungen und dankte dem Herrn, dass er den Sohn eines Elektronikfachhändlers unter seinen Ministranten hatte.
    Er befestigte die Kamera auf dem Stativ und positionierte sie so, dass der gesamte vordere Bereich der Kirche im Aufnahmewinkel lag. Dann testete er die Kamera.
    Anfangs hatte er noch Bedenken, ob es wirklich so »easy« für ihn werden würde, wie der Junge behauptet hatte. Thanner war in technischen Dingen nicht sonderlich bewandert, und die letzte Videokamera, die er vor Jahren für seine erste Jugendfreizeit ausgeliehen hatte, war noch ein sperriges und überaus schweres VHS-Gerät gewesen, das nicht über halb so viele Funktionen wie Matts Modell verfügt hatte. Doch er stellte recht schnell fest, dass der Umgang damit in der Tat einfach und intuitiv zu bewerkstelligen war.
    Schon nach wenigen Versuchen war Thanner mit der Testaufnahme zufrieden. Der Junge hatte ihn gut beraten.
    Die Überwachungskamera funktionierte ähnlich wie ein Bewegungsmelder. Sie wurde aktiviert, sobald sie Veränderungen in dem Bild registrierte, auf das sie ausgerichtet war. Ihre Aufnahmen zeichnete sie auf Festplatte auf, was eine wochenlange Beobachtung der Kirche ermöglicht
hätte, und die Bildqualität war hervorragend. Wer immer sich in der Kirche bewegte, würde auf dem Video zu erkennen sein.
    Ein Poltern ließ ihn zusammenfahren. Erschrocken sah er über die Brüstung der Empore.
    »Hallo? Ist da jemand?«
    Für einen Augenblick vermutete er, dass Edith Badtke gekommen war, um nach ihm zu sehen und ihn an seinen Termin in der Waldklinik zu erinnern. Er lag zwar noch gut in der Zeit, aber es wäre nicht ungewöhnlich, dass sie ihn dennoch zur Pünktlichkeit ermahnte.
    »Frau Badtke?«
    Keine Antwort.
    Thanner ging nach unten und sah sich um. Er war allein. Nur sein Atmen und das leise Wimmern des Windes, der sich im Deckengewölbe fing, waren zu hören.
    Dann krachte es

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