Dunkler Wahn
schützen?
Je länger Jan darüber nachdachte, desto verwirrender erschien ihm die ganze Angelegenheit. Falls es tatsächlich einen Zusammenhang geben sollte, konnte er ihn nicht erkennen.
Als er trotz seines Schirms – der nur wenig Schutz bot, da ihm der Regen beinahe waagerecht entgegenwehte – völlig durchnässt war, kehrte er zu seinem Haus zurück. Kurz vor der Gartentür angekommen, blieb er verdutzt stehen.
Die Außenleuchte erhellte den Hauseingang, aber es war niemand zu sehen. Der Timer des Bewegungsmelders war auf zwei Minuten eingestellt, also musste vor kurzem jemand an der Haustür gewesen sein. Jan sah sich nach allen Richtungen um, doch wie immer um diese Zeit und vor allem bei diesem garstigen Wetter wirkte das Viertel wie verlassen.
In diesem Moment erlosch das Licht wieder. Die zwei Minuten waren um.
Jan ging weiter auf sein Haus zu. Merkwürdig, dachte er, der Bewegungsmelder sprang doch nur auf Personen an, das hatte ihm der Elektriker seinerzeit versichert. Er habe den Sensor so hoch eingestellt, dass er nicht von einem Tier ausgelöst werden konnte. In der Gegend gab es nachts zu viele Katzen und bisweilen auch Marder, die andernfalls für Dauerbeleuchtung gesorgt hätten.
Wieder schaute Jan sich um, doch da war niemand. Er sah die Straße entlang. Wie weit konnte man in etwas weniger als zwei Minuten kommen? Auf jeden Fall weit genug, um aus dem Blickfeld zu verschwinden. Man musste nur um die Kurve am anderen Ende der Straße laufen. Und bei diesem Regen würde man sicherlich nicht gerade gemütlich dahinschlendern.
Ja, so musste es gewesen sein. Jemand hatte bei ihm geläutet und festgestellt, dass er nicht zu Hause war. Also war er wieder gegangen.
Oder sie.
So schlicht und einfach diese Erklärung auch sein mochte, Jan fühlte sich deshalb nicht beruhigt. Wieder sah er sich um. Er wurde den Eindruck nicht los, dass er von irgendjemandem beobachtet wurde. Vielleicht aus einer der unbeleuchteten Hausecken oder aus einem der Nachbargärten, die im Dunkeln lagen. Vielleicht auch aus seinem
eigenen Garten, von dem in der Dunkelheit so gut wie nichts zu erkennen war.
Nur das rhythmische Trommeln der Regentropfen auf den Hausdächern war zu hören, und irgendwoher drangen gedämpfte Stimmen und Musik zu ihm, die von einem zu lauten Fernseher stammen mussten.
Jan beschleunigte seinen Gang und war erleichtert, als er die Haustür erreichte. Der Bewegungsmelder war wieder angesprungen. Jan zuckte zusammen. Vor ihm auf der Fußmatte lag ein Kuvert. Es zeigte mit der Rückseite nach oben, als sei es dort in aller Eile hingeworfen worden.
Vielleicht, weil sie mich hat kommen sehen.
Er hob den Umschlag auf. Es war ein Briefumschlag wie tausend andere, der dennoch auf unheimliche Weise vertraut wirkte. Noch bevor Jan ihn umdrehte, wusste er, dass sein Name in kindlicher Schrift auf der Vorderseite stehen würde.
Eilig schloss er auf, schlüpfte hinein, schloss die Tür hinter sich und lehnte sich dagegen.
Seine Hände zitterten, als er den Umschlag betrachtete. Dieses Mal war es anders als bei dem Kuvert zuvor und dem Blumenstrauß. Dieses Mal hatte Jan Angst.
Das erste Kuvert hatte er auf einem Parkplatz der Klinik bekommen, und auch die Blumen waren in die Klinik geliefert worden. Doch dieser Umschlag hatte vor seiner Haustür gelegen. Die Unbekannte war bei ihm zu Hause gewesen.
Sie nähert sich mir , schoss es ihm durch den Kopf.
Mit dem Hausschlüssel öffnete er den Umschlag und war nicht verwundert, eine weitere Zeichnung darin vorzufinden. Darauf waren wieder die hellgrüne Wiese und die knallgelbe Sonne mit den Strichstrahlen zu sehen, die an einem türkisfarbenen Himmel strahlte. Der Strichriese
mit dem Mädchen auf der Schulter hatte die Wiese verlassen, und Jan dachte: Wahrscheinlich sind die beiden losgezogen, um sich in meinen Alpträumen einzunisten . Eine Vorstellung, die ihm ein nervöses Kichern entlockte, obwohl ihm nach Lachen angesichts des Bildes wirklich nicht zumute war.
Denn nun war die Wiese mit einer Schar schwarz-weiß gefleckter Kühe bevölkert. Die Tiere waren allesamt enthauptet. Ihre Köpfe lagen auf einem Stapel am rechten Rand des Bildes. Unter dem Stapel hatte die Zeichnerin einen großen roten Fleck auf das Gras gemalt.
Blut.
Viel Blut .
22
Jan hatte sie nicht gesehen, dabei stand sie nur wenige Meter von ihm entfernt auf der anderen Straßenseite. Sie hatte sichergehen wollen, dass er ihr Geschenk auch wirklich fand, also hatte sie sich in
Weitere Kostenlose Bücher