Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dunkler Wahn

Dunkler Wahn

Titel: Dunkler Wahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wulf Dorn
Vom Netzwerk:
abgeschlossen. Doch die Frau antwortete nicht. Stattdessen zuckte sie erschrocken zusammen und lief davon. Aber nicht zum Ausgang, wie es jeder normale Mensch getan hätte, sondern in die entgegengesetzte Richtung.
    Volker lief ihr nach. In einiger Entfernung hörte ich ihn reden, aber ich konnte nicht verstehen, was er sagte. Und dann …«
    Sie hatte wieder an ihrem Tee genippt und dann geschwiegen. Erst als Jan sie angesprochen und gefragt hatte, was dann geschehen sei, hatte sie ihre Erzählung fortgesetzt.
    »Da war dieser Schrei. Nein, kein Schrei, vielmehr ein Heulen. Es muss diese Frau gewesen sein, aber sie klang wie … ja, wie ein Tier … oder wie ein Wesen aus einer anderen Welt. Es war entsetzlich. Ich saß in meinem Rollstuhl und zitterte wie Espenlaub. Ich kann zwar ein paar Schritte gehen, aber auf dem Kies fühle ich mich im Rollstuhl sicherer.« Sie hatte ängstlich die Augen verdreht, als hätte sie sich in diesem Moment wieder auf dem Friedhof und nicht zu Hause in der Dunkelheit ihres Wohnzimmers befunden. »Gleich darauf war es wieder ruhig«, hatte sie mit gepresster Stimme geflüstert. »Alles war so schrecklich still. Es mussten einige Minuten vergangen sein – drei oder vier, vielleicht auch mehr –, bis Volker wieder zurückkam. Er war kreidebleich. Ich fragte ihn, was geschehen sei und wohin die Frau verschwunden
sei, denn wäre sie zum Ausgang gelaufen, hätte sie wieder an mir vorbeikommen müssen. Doch Volker schüttelte nur den Kopf. Wieder und wieder, und ich fragte ihn noch einmal.
    ›Sie ist weg‹, sagte er. ›Einfach verschwunden.‹
    ›Aber das kann nicht sein‹, sagte ich. ›Das ist nicht möglich. Dort hinten gibt es keinen Ausgang. Es gibt nur das große Tor.‹
    ›Mama, da war niemand‹, behauptete er plötzlich. So wahr ich hier sitze. Eben noch hatte er gesagt, sie sei verschwunden, und keine zwei Atemzüge später gab er vor, dass da niemand gewesen sei. Dabei hatte ich sie doch gesehen und sie schreien gehört. Dieser Schrei klingt mir noch immer im Kopf nach. Er war so entsetzlich. Deshalb konnte ich nicht verstehen, weshalb Volker mich anlog. Ich verstehe es noch immer nicht. Doch Volker sagte nichts mehr. Er schob mich nur zurück zum Auto und fuhr mich nach Hause. Er sprach kein Wort mehr darüber. Dann schloss er sich in seinem Zimmer ein.«
    Das war der Moment gewesen, in dem sie sich wieder Jan zugewandt hatte. Mit ihrem Blick hatte sie ihn angefleht, ihr zu glauben.
    »Wissen Sie jetzt, was ich mit dem Geist gemeint habe? Volker hat ihn gesehen, aber er hat sich nicht getraut, es offen auszusprechen. Er hat sich dafür geschämt, weil er nicht an das Übernatürliche geglaubt hat. Dabei hätte er doch wissen müssen, dass ich es verstehen würde. Wer, wenn nicht ich?«
     
    Nun stand Jan selbst am Grab von Eckardt Nowak. Er sah die Gladiolen. Der starke Regen hatte ihnen die Köpfe abgeknickt.
    Was danach gewesen sei, hatte er Agnes Nowak gefragt.
Ob Volker mit irgendjemandem über diesen Vorfall geredet hatte?
    »Ich weiß es nicht«, hatte sie entgegnet. »Als ich am nächsten Morgen aufstand, war er bereits aus dem Haus. Erst am späten Nachmittag kam er wieder heim. Er war völlig durcheinander, als ob ihm etwas schreckliche Angst machte, und verbrachte den Abend in seinem Zimmer. Nicht einmal essen wollte er. Er habe keine Zeit, sagte er. Und dann … Dann ging er. Für immer.« Sie hatte geschluchzt und sich ein Taschentuch auf die Augen gedrückt. »Er soll einen Schirm mitnehmen, weil es so regnet. Das war das Letzte, was ich zu meinem Jungen gesagt habe.«
    Jan ging zwei Grabreihen weiter zu der Stelle, die Agnes Nowak beschrieben hatte.
    Der schmale Gang führte zurück zum Hauptweg und von dort zum Ausgang. Jan folgte ihm in die entgegengesetzte Richtung, kam an einer leeren Schubkarre vorbei und gelangte schließlich zu einem freien Platz vor der Friedhofsmauer, in dessen Mitte eine Statue des guten Hirten mit einer Kinderschar stand.
    Wenn Volker und die Unbekannte in diese Richtung gelaufen waren, mussten sie hier bei den Kindergräbern aufeinandergetroffen sein. Von hier aus gab es kein Weiterkommen, man konnte nur zurückgehen.
    Aber was war dann geschehen? Was hatte Volker zu der Frau gesagt? Warum hatte sie geschrien? Und warum hatte er so plötzlich behauptet, sie sei verschwunden?
    Jan umschritt die Statue und kam zu einem vergitterten Torbogen. Dahinter war ein freier Platz mit einem Container für Gartenabfälle zu sehen. Er

Weitere Kostenlose Bücher