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Dunkler Wahn

Dunkler Wahn

Titel: Dunkler Wahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wulf Dorn
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dieser realen Schauergeschichten gehört – sie bewiesen ihm nur, wie erfindungsreich die menschliche Vorstellungskraft sein konnte. Marienerscheinungen, Ungeheuer, Monster, Dämonen und Götter aller Art, in der Psychiatrie war ihre Zahl Legion.
    Dennoch war sich Jan sicher, dass Agnes Nowak jemanden gesehen hatte. Natürlich einen Menschen, keinen Geist. Doch in der grauen Einsamkeit des Friedhofs, in der nichts zu hören war außer dem Heulen des Windes, dem Verkehr auf der nahe gelegenen Schnellstraße und dem Prasseln des Regens auf seinem Schirm, ließ ihn die Erinnerung an ihre Erzählung schaudern.

    Sie hatte in ihrem Stuhl gesessen, eine bleiche Gestalt, die seit Jahrzehnten das Sonnenlicht nicht mehr gesehen hatte. Ihre verkrümmten Hände hatten ihre Teetasse umklammert, als sei dies der einzige Weg, den Bezug zur Realität zu halten, während sie über etwas sprach, das ihr niemand glauben würde.
    »Mein Eckardt starb, kurz nachdem Volker in die Schule gekommen war«, hatte sie mit entrücktem Blick begonnen. »Er war ein herzensguter Mann, nur leider war dieses Herz zu schwach. Er starb völlig überraschend. Mein einziger Trost war, dass er nicht lange leiden musste.
    Es schmerzt mich noch heute, dass ich bei seiner Beerdigung nicht dabei sein konnte. Jener September war einer der sonnigsten und heißesten seit Jahren, und wieder einmal erschien mir meine Krankheit wie ein Fluch. Erst nach Sonnenuntergang konnte ich mich von meinem Eckardt zum letzten Mal verabschieden, und ich versprach ihm, ihn regelmäßig zu besuchen.
    Ich habe keinen Führerschein, müssen Sie wissen. In meiner Generation war das für eine Frau nicht üblich, und dazu kam mein Leiden. Also musste ich mir jedes Mal ein Taxi bestellen, wenn ich sein Grab besuchen wollte. Immer abends, wenn der Friedhof eigentlich schon für Besucher geschlossen war. Der damalige Pfarrer hatte mir eigens dafür einen Schlüssel anfertigen lassen. Ein feiner Zug von ihm, finden Sie nicht?«
    »O ja, durchaus«, hatte Jan ihr beigepflichtet, aber sie schien ihn nicht gehört zu haben. Sie war ganz in die Vergangenheit entrückt gewesen.
    »Seither besuche ich Eckardts Grab jeden Samstagabend, sobald es dunkel ist. Und in all den Jahren habe ich es nicht einmal versäumt oder aufgeschoben. Selbst wenn es mir richtig schlecht ging, bin ich hingefahren. Solange
Volker noch keinen Führerschein hatte, fuhr ich mit dem Taxi, und später hat er mich gebracht. Jeden Samstag, bei jedem Wetter. Das war ich meinem Eckardt schuldig. Wir hatten uns als Nachbarskinder kennengelernt und uns schon mit acht geschworen, dass wir eines Tages heiraten und für immer zusammenbleiben würden. Und so ist es dann auch gekommen – nur dass dieses ›für immer‹ viel zu kurz gewesen ist.« Sie hatte geseufzt und an ihrem Tee genippt, ehe sie weitersprach.
    »Und so sind wir auch letzten Samstag wieder auf dem Friedhof gewesen. Volker und ich. Es war schon spät, weil Volker lange arbeiten musste – für ihn gab es nie ein Wochenende, wissen Sie – , aber so war es bei uns öfter. Wir sind beide Nachtmenschen … das heißt, wir waren es beide. Volker musste es wohl von mir geerbt haben. Wir sind nie besonders früh aufgestanden, aber dafür waren wir bis spät in der Nacht auf. Und was den Friedhofsbesuch anbetraf, spielte das auch keine Rolle, denn wir hatten ja den Schlüssel.
    Ich denke, es war so gegen halb elf, als wir an Eckardts Grab ankamen. Wie immer stellte ich ihm frische Blumen in die Vase – Gladiolen, die hat er über alles geliebt, auch wenn sie übel riechen –, und als ich wieder neben Volker trat, fiel mir auf, dass er mit zusammengekniffenen Augen ins Dunkle starrte. Er sah irgendetwas, auch wenn ich nicht gleich erkennen konnte, was es war.
    ›Das gibt es doch gar nicht‹, hörte ich ihn murmeln, doch noch ehe ich ihn fragen konnte, was er damit meinte, sah ich es schließlich auch. Zwei Grabreihen von uns entfernt stand eine dunkle Gestalt. Es war eine Frau, da bin ich mir sicher. Sie trug einen grauen Mantel und ein Kopftuch, und über ihr Gesicht hing eine lange blonde Strähne herab. Mehr konnte ich nicht erkennen, auch wenn sich
meine Augen im Lauf der Jahre an das Sehen im Dunkeln gewöhnt haben. Aber ich sah, dass sie den Kopf gesenkt hatte. Wie eine Statue.
    Erst als Volker sie ansprach, bemerkte sie uns. Er fragte, wer sie sei und wie sie um diese Zeit hereingekommen sei, denn wie immer hatten wir das Eingangstor hinter uns wieder

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