Dunkler Wahn
ja, da wäre zum einen die Frau vom Friedhof«, sagte Stark und begann seine Auflistung an den Fingern abzuzählen. »Dann haben wir noch die Aussage dieses Nachbarn, der kurz vor dem Mord den Streit zwischen Nowak und einer Frau gehört hat. Außerdem konnten wir trotz des starken Regens mehrere Spuren am Tatort sicherstellen, die darauf hindeuten, dass die Täterin Schuhgröße neununddreißig gehabt haben muss. Dem Sohlenprofil nach handelt es sich um Frauenstiefel, die vor kurzem in einem dieser Billigdiscounter angeboten wurden.«
Jan runzelte die Stirn. »Und trotzdem glauben Sie nicht, dass es die Freundin dieses … wie nennt er sich noch?«
»Dagon, wie diese syrische Gottheit. Eigentlich heißt er Adrian Stancu«, half ihm Stark, dann schüttelte er den Kopf. »Nein, seine Freundin kann es nicht gewesen sein. Sie hat ein überzeugendes Alibi.«
»Ach ja?«
»Ja, sie war in Rumänien, als Nowak ermordet wurde. Und, was noch wichtiger ist, sie war zu diesem Zeitpunkt höchstwahrscheinlich selbst tot.«
»Tot?«
Stark nickte bedeutsam. »Die rumänischen Kollegen sprechen von einer Hinrichtung. Wie es scheint, muss es mit ihrer großen Liebe zu Dagon doch nicht so weit her gewesen sein. Vielleicht hat sie aber auch einfach nur eingesehen, dass zwölf Jahre eine lange Zeit sein können.«
»Sie hatte einen anderen?«
»Ganz recht.« Stark zupfte sich einen Tabakkrümel von der Zunge. »Und Dagon scheint dafür kein Verständnis gehabt zu haben. Noch können wir ihm nicht nachweisen, dass er den Mord an den beiden in Auftrag gegeben hat, aber wenn man die Leiche einer Frau vorfindet, der man die Geschlechtsorgane ihres Liebhabers in den Rachen gestopft hat, ist es doch recht offensichtlich, finden Sie nicht?«
»Allerdings. Aber warum schließen Sie aus, dass Dagon selbst den Mord an Nowak in Auftrag gegeben hat?«
Stark hob eine Braue. »Tue ich das denn?«
»Hätten Sie mir sonst davon erzählt?«
Noch einmal zog der Polizist an seiner Zigarette, rupfte dann mit den Fingerspitzen die Glut ab und zertrat sie. Den restlichen Stummel schob er zu der ersten Kippe in die Jackentasche.
»Sie haben Recht, Doktor. Ich glaube einfach nicht an einen Rachemord. Es ist vielleicht nur ein Gefühl, aber ich denke, Dagon gut genug zu kennen. Ein Kerl wie er würde nie eine Frau mit einem Mord beauftragen. Und dann ist da noch dieser Zeuge. Der Mann hat die Frau auf dem Parkplatz zwar nicht gesehen, aber er hat Nowaks Streit mit ihr gehört. Also, selbst wenn sie eine Auftragsmörderin gewesen wäre, hätte sie sicherlich unauffälliger gehandelt und nicht erst die Nachbarschaft auf sich aufmerksam gemacht. Nein, die Rachemordtheorie ergibt für mich keinen Sinn.«
Jan sah auf die Uhr und nickte dann in Richtung seines Stationsgebäudes. »Ich sollte schon längst bei meinen Patienten sein. Wollen Sie mir nicht einfach sagen, was Sie wirklich von mir wollen?«
Stark seufzte und fuhr sich mit der Hand über seinen Stoppelkopf, in dem sich Regentropfen wie Schweißperlen gesammelt hatten. »Na gut, ich will Sie nicht länger als nötig aufhalten. Also geradeheraus: Können Sie sich vorstellen, dass die Mörderin hier in der Waldklinik in Behandlung ist oder war?«
Jan hatte schon vermutet, dass Stark darauf abzielte. Auch er hatte schon darüber nachgedacht. Vor allem in der vergangenen Nacht. Er hatte sich gefragt, ob das Bild mit den enthaupteten Kühen auf der Weide in Zusammenhang mit Nowaks Ermordung stand, ob die Frau, die ihm diese Nachrichten zukommen ließ, etwas damit zu tun hatte.
Zunächst hatte er daran gezweifelt. Es konnte doch ebenso gut sein, dass sie einfach nur krank war und Jans Hilfe suchte, während gleichzeitig auch eine Mörderin dort draußen unterwegs war. Es widerstrebte ihm, jemanden eines brutalen Mordes zu bezichtigen, nur weil diese Person unter offensichtlichen Wahnvorstellungen litt.
Doch etwas in ihm – ein sicherer Instinkt, der sich im Lauf seiner beruflichen Erfahrung geschärft hatte – war überzeugt, dass es tatsächlich nur eine Person gab. Die Urheberin der Zeichnung war auch Nowaks Mörderin. Zwar hatte er keinen Beweis dafür, aber dieser Instinkt ließ keinen Zweifel daran zu.
Doch falls das stimmte, wer war sie? Jemand, den er kannte? Wandte sie sich deshalb an ihn?
Sie suchte nach Hilfe – nach seiner Hilfe –, so viel stand für ihn fest. Dass sie sich ausgerechnet für ihn entschieden hatte, musste einen Grund haben.
Also war Jan im Geiste sämtliche
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