Dunkler Wahn
erneut, diesmal nur wenige Schritte von ihm entfernt, und Thanner sah, was das Geräusch verursachte. Jemand musste die Drahtschlaufe der defekten Seitentür nicht richtig eingehängt haben. Nun schlug sie im Wind gegen den Rahmen.
Erleichtert atmete Thanner auf, schloss die Tür und zurrte den Draht von innen fest. Es wurde Zeit, dass sich dieser Seif endlich um das Schloss kümmerte. Kunsthandwerk hin oder her, aber das dauerte nun entschieden zu lange.
Dann ging er in die Mitte des Kirchenschiffs und überprüfte, ob Stativ oder Kamera durch die Abstände in der Emporenbrüstung zu erkennen waren.
Nein, stellte er zufrieden fest. Man hätte schon ganz genau hinsehen müssen, um den Schatten des Stativs durch den Spalt auszumachen. Wenn man dort oben nichts vermutete, würde man auch nichts sehen.
»Also gut«, flüsterte er dem Portal zu. »Jetzt musst du nur noch zu mir kommen.«
24
An diesem Vormittag begann Jans Dienst mit dem Besuch der allwöchentlichen Klinikkonferenz, an der das ärztliche und therapeutische Personal, Psychologen, Seelsorger und Sozialarbeiter teilnahmen. Normalerweise wurden bei diesen Treffen klinikinterne Belange, besondere Ereignisse oder schwierige Patientenfälle besprochen, doch heute gab es nur ein einziges Thema.
Die Spendenaktion für die neue Pädiatriestation war ein voller Erfolg gewesen. Die Einnahmen waren deutlich höher ausgefallen als erwartet. Als Professor Straub die Summe nannte, ging zuerst ein überraschtes Raunen durch die Reihen, dann folgte begeisterter Applaus, woraufhin der Klinikleiter nochmals allen Beteiligten für ihr Engagement dankte.
Als die Konferenz beendet war und die Versammlung sich auflöste, wartete draußen auf dem Gang Felix Thanner auf Jan. Das Gesicht des jungen Pfarrers strahlte vor Freude, und Jan musste an einen kleinen Jungen denken, dem man freie Auswahl in einem Spielwarengeschäft versprochen hatte.
»Endlich einmal eine gute Nachricht«, sagte Thanner mit funkelnden Augen. »Das ist weitaus mehr, als ich je zu hoffen gewagt hätte. Andererseits wundert es mich nicht, Jan. Deine Präsentation muss einen ziemlichen Eindruck gemacht haben, was ich so mitbekommen habe. Angeblich
soll die Frau des Rotariervorstands Tränen in den Augen gehabt haben.«
»Ach ja?« Jan hob die Brauen. »Das stammt doch sicherlich von Frau Badtke, oder?«
»Von wem sonst?«
Thanner schmunzelte. Er wirkte müde, fand Jan. Trotz seines Freudestrahlens waren die Augenränder nicht zu übersehen. Wahrscheinlich hatte er vor Aufregung wegen der heutigen Bekanntgabe des Spendenergebnisses kein Auge zugetan. Jan würde das nicht wundern, denn von allen, die sich für das Kinder- und Jugendprojekt eingesetzt hatten, war Felix Thanner derjenige gewesen, der sich mit dem größten Eifer dafür starkgemacht hatte.
Wieder einmal fragte sich Jan, warum Felix dieses Projekt so sehr am Herzen lag. Gab es vielleicht jemanden, an den er dabei dachte? Jemanden wie Jans kleinen Bruder Sven, an dem es etwas gutzumachen galt? Wollte auch Felix für andere da sein, weil er im entscheidenden Augenblick für eine ganz bestimmte Person nicht da gewesen war? Dann wären sie sich sehr ähnlich.
Dennoch wagte er es nicht, Felix danach zu fragen. Auch wenn sie sich gut verstanden, war ihre Beziehung bisher nur auf das Kollegiale beschränkt gewesen.
»Ich denke allerdings nicht, dass es nur an meinem Vortrag gelegen hat«, entgegnete Jan und deutete augenzwinkernd zur Decke. »Die Großzügigkeit unserer Spender hatte wohl eher mit deinem guten Draht nach oben zu tun.«
Felix erwiderte etwas, doch Jans Aufmerksamkeit wurde von einem hageren Mann abgelenkt, der sich am Ende des Ganges mit einer Assistenzärztin unterhielt. Die beiden sahen zu Jan herüber, und der Mann nickte. Dann kam er auf Jan zu.
Jan schätzte ihn auf Ende vierzig, vielleicht auch etwas älter. Er hatte klare kantige Züge und einen lippenlosen Mund, der aussah, als habe man ihm einen dunklen Strich ins Gesicht gezogen. Das Haar schien er sich mit einem Kurzhaarschneider selbst geschnitten zu haben – an einigen Stellen sah man die rötliche Kopfhaut durchschimmern – , und seine rechte Braue wurde von einer Narbe zerteilt, die er sich vor vielen Jahren zugezogen haben musste. Am auffälligsten waren jedoch die wachsamen Augen dieses Mannes. Ihnen schien nichts zu entgehen.
»Dr. Forstner? Hauptkommissar Stark.« Er streckte Jan die Hand entgegen. »Man sagte mir, dass ich Sie hier treffen
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