Dunkler Wahn
glaube nicht recht zu hören. »Wie hat der ausgesehen ?«
»Keine Ahnung, ist ja schon dunkel«, sagte der Taxifahrer und hob die Hände. »So mittelgroß, würd ich sagen. Und zierlich wie’n Mädchen.«
»Verdammtes Gesindel«, fluchte Pratt und stürmte in den Anbau.
Es lag noch nicht ganz zwei Jahre zurück, dass er Hakenkreuzschmierereien auf mehreren der alten Grabsteine im Norden der Anlage vorgefunden hatte. Und keinen Monat später hatte er eines Morgens die Überreste einer Party im selben Teil des Friedhofs entdeckt. Kerzen, Wodkaflaschen, Red-Bull-Dosen und – er hatte es kaum glauben können – mehrere benutzte Kondome und einen Slip mit Hello Kitty -Aufdruck. Obendrein hatte sich einer der Teenager hinter einem der verwitterten Grabsteine übergeben. Natürlich hatte man nach den Tätern gefahndet, sie aber nie ausfindig machen können. Doch wenigstens hatte die Stadtverwaltung endlich Pratts Antrag auf eine Aufstockung der Friedhofsumzäunung zugestimmt.
Seither hatte es keine weiteren Vorfälle mehr gegeben, und Pratt hatte geglaubt, das Thema sei damit beendet. Während er nun den Anbau überprüfte, hoffte er inständig, dass er sich nicht getäuscht hatte.
Erleichtert stellte er fest, dass sich alles immer noch an seinem Platz befand. Wer immer hier hereingekommen sein mochte, er oder sie hatte nichts mitgenommen. Das Werkzeug hing und stand dort, wo es hingehörte, sämtliche Gerätschaften waren an ihrem Platz, und auch die Bierkiste in seinem Spind war unberührt geblieben.
Ein Glück , dachte er. Da schienen die Nowak und ihr Fahrer genau zur rechten Zeit aufgetaucht zu sein.
Oder …
Pratt sah zu der Tür, die nach nebenan zur Aufbahrungshalle führte. Er erkannte regennasse Schuhabdrücke und schluckte. Zögernd ging er darauf zu und drückte die Klinke. Die Tür war offen.
»Gottverdammich«, fluchte er und sah sich das Türblatt an. Es war unversehrt, und da die Tür ein Sicherheitsschloss hatte, konnte das nur bedeuten, dass er heute Nachmittag nicht abgesperrt hatte, als die beiden Särge angeliefert worden waren. Er musste es vergessen haben. Wahrscheinlich, weil er sich mit dem Bestatter erst einmal ein Bier genehmigt hatte, gleich nachdem sie Krögers schweren Sarg auf das Podest gehievt hatten. Danach hatten sie noch darüber diskutiert, ob man für die Bestattung derartiger Schwergewichte einen Aufpreis verlangen sollte – so, wie es ja inzwischen auch schon teurere XXL-Plätze in Flugzeugen gab –, und aus einem Bier waren schließlich drei geworden.
»Fehlt etwas?«
Erschrocken fuhr Pratt zusammen und sah sich zu dem Taxifahrer um.
»Nein, sieht nicht so aus«, sagte er, dann sperrte er die Tür ab und rüttelte zur Sicherheit noch einmal daran. »Wohin ist der Kerl denn abgehauen?«
»Da lang.« Der Taxifahrer deutete mit der Zigarettenspitze in Richtung des Tors, hinter dem der Kompostcontainer stand. »Aber wie gesagt, kann auch ’ne Sie gewesen sein.«
»Egal, da hinten gibt es keinen Ausgang«, brummte Pratt. Er umklammerte das Schweizer Taschenmesser in seiner Jackentasche und stapfte los.
Das war wirklich merkwürdig, dachte er. Dahinten hatte er auch diesen Forstner getroffen. Ob es dort noch einen zweiten Ausgang gäbe, hatte der wissen wollen. Vielleicht
eine offene Stelle in der Mauer, von der niemand wusste.
Besser, er ging auf Nummer sicher und sah nach, überlegte Pratt. Vielleicht war dort wirklich eine Lücke, die ihm bisher noch nicht aufgefallen war. Er untersuchte die Mauer, fand jedoch nichts. Auch das hintere Tor war wie immer abgeschlossen.
Als die Batterien seiner Lampe schließlich schwächer wurden und Pratt vom Regen völlig aufgeweicht war, machte er sich fluchend auf den Rückweg. Er würde morgen noch einmal bei Tageslicht nachsehen.
Immer wieder leuchtete er über die Grabsteine. Er wurde den Eindruck nicht los, dass sich dort irgendjemand vor ihm versteckte. Aber er sah niemanden, und wenn er ehrlich war, musste er sich eingestehen, dass er auch ganz froh darüber war.
Statt weiterzusuchen, lief er schneller, und als er schließlich wieder am Leichenschauhaus ankam, waren auch Agnes Nowak und ihr Fahrer nicht mehr da.
Hastig sperrte Pratt die Türen ab, überprüfte sie noch einmal, und dann beeilte er sich, zum Ausgang zu kommen. Sein Feierabendbier konnte er auch zu Hause trinken.
Erst als er den Motor seines alten Daimlers startete, fühlte er sich wieder sicherer. Kopfschüttelnd setzte er zurück und fuhr aus der
Weitere Kostenlose Bücher