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Dunkler Wahn

Dunkler Wahn

Titel: Dunkler Wahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wulf Dorn
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in den letzten Tagen wortwörtlich vom Mund abgespart hatte. Ebenso war er überzeugt, wenn er die Opferdose neben dem Kerzenregal überprüfte, würde der Betrag darin exakt mit dem Gegenwert der vier Kerzen übereinstimmen.
    Nein, dachte er, diese Frau würde weder Hunderte von Kerzen anzünden, ohne dafür zu bezahlen, noch wäre sie – nicht nur allein aufgrund ihrer Gebrechlichkeit – in der Lage gewesen, sich zu der Statue emporzustrecken und einen Schal darum zu wickeln.
    Enttäuscht betätigte er wieder die Abspieltaste. Er ließ sich zurücksinken und verfolgte die weitere Aufnahme, die jedoch nur die leere Kirche zeigte. Die einzige Person, die knapp zwei Stunden später noch ins Bild kam, war er selbst. Er sah sich zu, wie er aus der Sakristei kam und sich versicherte, allein in der Kirche zu sein, ehe er kurz in die Seitenkapelle und dann zum Aufgang der Empore ging. Dann schaltete er ab.
    Er starrte auf die Kamera und seufzte. Was hatte er auch erwartet? Dass die Frau ihm gleich am ersten Tag vors Objektiv lief? Das wäre ein mehr als wünschenswerter, aber äußerst unwahrscheinlicher Zufall gewesen. Es war ja noch nicht einmal gesagt, dass die Unbekannte überhaupt wiederkommen würde.

    Aber immerhin funktionierte die Kamera, tröstete er sich, und Matt hatte sie ihm für einige Tage überlassen. Also konnte er noch hoffen.
    Während er die Kamera erneut fokussierte und die Aufnahme aktivierte, fragte er sich zum hunderttausendsten Mal, wer der Mann sein mochte, von dem die Frau gesprochen hatte. Was wollte sie von diesem Mann, und warum hatte sie ausgerechnet ihm davon erzählt?
    Hatte sie es womöglich wirklich auf ihn abgesehen?
    Aber warum?
    Vielleicht aus einem Grund, den man nur durch einen Wahn erklären konnte – einem Grund, der für einen normal denkenden Menschen gar nicht nachvollziehbar war.
    Auch wenn ihn dieser Gedanke ängstigte, hatte er andererseits etwas Beruhigendes. Dann wäre nur er selbst in Gefahr. Und er war wachsam genug, um auf sich aufzupassen, immerhin war er gewarnt. Blieb nur zu hoffen, dass er sich nicht täuschte.
    Gerade als er die Wendeltreppe hinabsteigen wollte, hörte er, wie an der Seitentür gerüttelt wurde. Jemand versuchte hereinzukommen, doch da Thanner den Draht am defekten Schloss von innen festgezurrt hatte, war es nicht möglich.
    Er hörte eine Frauenstimme, die leise vor sich hin schimpfte, und spürte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten. Noch einmal wurde an der Tür gerüttelt, dann gab die Frau auf.
    Thanner eilte die Stufen hinunter zur Tür. Er löste das Drahtprovisorium und sah auf den Kirchhof hinaus.
    Da war niemand mehr. Nur der Regen, der jetzt wieder stärker niederging.
    »Haben Sie das gemacht?«

    Erschrocken wirbelte Thanner zu der Stimme hinter ihm herum.
    Edith Badtke kam auf ihn zu und deutete auf die Seitentür. Regentropfen perlten aus ihrer Hochsteckfrisur.
    »Eine gute Idee, den Draht innen zu befestigen. Darauf hätte ich auch selbst kommen können, dann hätten wir uns eine Neulieferung Opferkerzen gespart«, sagte sie. Sie sah ihn besorgt an. »Geht es Ihnen nicht gut? Sie sind ja schon wieder ganz blass.«
    »Ja, das heißt nein«, stammelte Thanner, dessen Herz noch immer wie wild schlug. »Ich war nur erschrocken, das ist alles.«
    »Sie brauchen einen kräftigen Tee«, entschied Edith Badtke mit entschlossener Miene. »Außerdem wollte ich Ihnen Bescheid geben, dass die Gerichtsmedizin den Leichnam von Herrn Nowak heute Vormittag zur Beisetzung freigegeben hat. Wenn es Ihnen recht ist, setze ich die Beerdigung für morgen an.«
    »Schon für morgen?«
    »Seine Mutter möchte es so. Er soll so schnell wie möglich seinen Frieden finden, meint sie. Und da ja die Beerdigung von Herrn Kröger für übermorgen eingeplant ist, dachte ich …«
    Thanner fuhr zusammen, als er über Edith Badtkes Schulter hinweg eine Bewegung neben dem Kirchenportal bemerkte. Seine Sekretärin hatte die Flügeltür offen gelassen, und nun stand eine Gestalt im Eingang – eine blonde Frau im Mantel, die zu Felix Thanner herübersah. Sie hielt eine Hand vors Gesicht, so dass für den Bruchteil eines Moments nur ihre Augen und die langen nassen Haare zu erkennen waren. Dann machte sie eilig kehrt und lief in den Regen hinaus.
    »Halt!«, rief Thanner ihr nach. »Bitte warten Sie!«

    Er schob seine verblüfft dreinblickende Sekretärin beiseite und eilte der Frau hinterher. Doch als er den Vorplatz erreicht hatte, war sie bereits verschwunden.

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