Dunkler Wahn
Parklücke.
»Alter Spinner«, sagte er zu sich selbst und lachte verunsichert.
Seit mehr als dreißig Jahren arbeitete er nun schon auf dem Friedhof. Anfangs war es für ihn noch ein wenig unheimlich gewesen – vor allem abends und während der ersten Wintermonate –, aber nach all den Jahren kannte er inzwischen jeden einzelnen Grabstein und fühlte sich in der Stille der Gräber meist wohler als unter Menschen.
Doch heute Abend hatte er zum ersten Mal richtige Angst gehabt.
29
Bevor Jan seinen Dienst beendete, schaute er im Stationszimmer vorbei. Er hoffte, er würde dort auf Bettina treffen, um sich bei ihr für die falsche Verdächtigung zu entschuldigen. Seit ihrer Reaktion plagte ihn ein schlechtes Gewissen.
Doch das Zimmer war leer. Bettina musste bereits in den Feierabend gegangen sein. Nur das Radio lief, und ein aufgedrehter Moderator fragte: »Was meint ihr, Leute? Ist der Schleusenwärter da oben in Urlaub gegangen und hat vergessen, vorher das Ventil zuzudrehen?« Danach kündigte er einen zum Wetter passenden Klassiker der Eurythmics an: Here Comes The Rain Again .
Auf dem Weg aus dem Stationsgebäude zerrte Jan an seinem Regenschirm, der wieder mal klemmte, und war damit so beschäftigt, dass er beinahe Franco Spadoni umgerannt hätte. Der Psychiater stand unter dem Vordach des Stationsgebäudes, von dem ein wahrer Sturzbach herabschoss, und schien auf Jan gewartet zu haben.
»Ich muss mit dir reden«, sagte er, drückte eine Zigarette im Wandaschenbecher neben der Eingangstür aus und steckte sich gleich darauf eine neue an.
Bei ihrer letzten Begegnung hatte Jan noch gedacht, der Schichtdienst sei schuld an den Augenrändern und dem unrasierten Gesicht seines Kollegen. Doch nun wirkte der aus Sizilien stammende Arzt mit dem sonst so makellos braunen Teint ungesund bleich und aufgewühlt, als sei etwas Schlimmes
geschehen. Jan fiel die Bemerkung ein, mit der Franco seine Frage, ob etwas mit ihm nicht in Ordnung sei, beim letzten Mal abgewunken hatte. Eheliche Unstimmigkeiten . Offenbar war das noch eine Untertreibung gewesen.
»Du siehst nicht gut aus, Franco. Was ist denn los?«
»Hast du Zeit für mich?«
»Natürlich.« Jan deutete auf die Zigarette. »Sag mal, ich habe gedacht, du hast vor Jahren das Rauchen aufgegeben ?«
»Habe ich ja auch.«
»Na gut, sag schon, worum geht es?«
»Also, ich …«, Franco stieß hustend den Rauch aus und räusperte sich. »Ich wollte dich um einen Gefallen bitten. Um … nun ja, um einen Freundschaftsdienst.«
»Okay. Was kann ich für dich tun?«
Ein Wagen fuhr vom Parkplatz vor der Station, und Franco wartete, bis der Lärm des Motors verklungen war. »Vor zwei Monaten«, sagte er leise, »also, da war ich übers Wochenende auf einem Kongress.«
»Und?«
»Na ja, eigentlich war ich auf keinem Kongress.«
Jan nickte. Also hatte er mit seiner Vermutung richtig gelegen. »Aber du möchtest, dass ich bestätige, dass du dort gewesen bist?«
»Na ja, also … um ehrlich zu sein, ja.«
»Zusammen mit mir? Verstehe ich das richtig?«
»Genau.« Mit einer nervösen Geste drückte Franco die Zigarette aus und schob die Hände in die Hosentaschen. »Ich meine, nur falls Flavia sich bei dir melden sollte. Sie wird es wahrscheinlich nicht tun, aber falls doch … Es könnte ja sein.« Er zuckte mit den Schultern und fügte hastig hinzu: »Es war nur ein Ausrutscher, Jan. Das kannst du mir glauben.«
Seufzend schüttelte Jan den Kopf. »Ich will hier keinen auf Moralapostel machen, aber warum tust du so etwas? Flavia ist eine tolle Frau. Sie ist intelligent, attraktiv, eigenständig und eine großartige Mutter.«
»Ja, sicher, aber ich …« Franco rang nach Worten. Er sah zu der überforderten Regenrinne hinauf, von der unablässig Wasser herablief. »Weißt du, wir sind jetzt seit über zehn Jahren verheiratet, und in letzter Zeit … na ja, die Kinder, das Haus, der Alltag … Ich wollte einfach ausbrechen, Jan. Ich weiß nicht, wie ich es dir erklären soll. Irgendwie war mir einfach alles zu viel. Dann bot sich die Gelegenheit, und da bin ich schwach geworden.« Mit einer Geste hilfloser Verzweiflung ballte er die Hände zu Fäusten. »Glaub mir, ich habe es ja auch gleich wieder beendet! Da läuft nichts mehr. Es war nur eine kurze Affäre.«
Sie sahen sich an, dann nickte Jan, ohne etwas zu sagen.
In Francos Augen schimmerten Tränen. »Jan, ich will Flavia nicht verlieren! Ich liebe sie. Es ist nur … Ich weiß nicht, was mit mir los
Weitere Kostenlose Bücher