Dunkler Wahn
gewesen, so viel stand fest, denn nach seiner Rückkehr von der Seelsorgesprechstunde in der Waldklinik hatte er vier brennende Kerzen vor der Christophorus-Statue vorgefunden. Nur vier, kein weiteres Kerzenmeer, aber immerhin.
Außerhalb der Gottesdienste kamen um diese Jahreszeit nur wenige Besucher in die Kirche. Im Sommer war es anders, dann konnte man immer wieder Touristen antreffen, die sich für den historischen Altar oder die Gemälde und die Deckenausmalungen interessierten, von denen man vermutete, dass es sich um Frühwerke des bekannten Rokokomalers Jacopo Amigoni handelte.
Doch die Touristensaison war längst vorüber. Zudem steckten Touristen nur selten Opferkerzen an. Sie kamen, machten Fotos und gingen wieder.
Aber nun brannten vier Kerzen. Vier.
Wie gebannt starrte Thanner auf den Monitor und
wischte sich erneut die feuchten Handflächen an der Hose ab. Zuerst war nur das Bild der leeren Kirche zu sehen. »Kann sein, dass es am Anfang etwas dauert«, hatte Matt ihm erklärt. »Das Motiv muss erst eingelesen werden, damit die Software spätere Abweichungen im Bild erkennen kann.« Also wartete Thanner ungeduldig, bis sich etwas veränderte.
Dann endlich, als der eingeblendete Zähler zwei Stunden und siebenundvierzig Minuten nach der Aktivierung der Überwachung anzeigte, bemerkte Thanner etwas. Er rückte dichter an den Monitor und atmete tief durch.
Jemand hatte die Kirche betreten. Anfangs war es nur ein Schatten, den das offen stehende Portal in das Mittelschiff warf, da sich die Person von unterhalb der Empore näherte. Doch dann kam die Gestalt ins Bild. Es war eine Frau.
Mit vor Anspannung geballten Fäusten verfolgte Thanner ihren Weg, der sie durch den Mittelgang führte.
»Dreh dich wenigstens einmal um«, flüsterte er dem Bild ihres Rückens zu.
Die Frau bewegte sich langsam, beinahe zögerlich. Sie trug einen dunklen Mantel und ein buntes Kopftuch. Beides war vom Regen nass und glitzerte im Licht der Hängeleuchten.
Aufgrund der Perspektive und der leicht gebückten Haltung der Frau ließ sich ihre Größe nur schwer ermessen. Sie mochte eins siebzig sein, schätzte Thanner, vielleicht aber auch größer.
Als sie die vorderste Gebetsbank erreicht hatte, bekreuzigte sie sich mit einer knappen Verbeugung in Richtung des Altars und kniete nieder. Danach vergingen fast fünfzehn endlose Minuten, in denen Thanner immer wieder den Atem anhielt und hoffte, sie werde sich endlich umsehen, damit er ihr Gesicht erkennen konnte.
Doch sie tat ihm diesen Gefallen nicht. Stattdessen erhob sie sich schließlich und ging zur Seitenkapelle, wo sie für exakt drei Minuten und zweiundzwanzig Sekunden verschwand.
Thanner schauderte und spürte die Gänsehaut auf seinen Armen, während über ihm der Wind im Gebälk ächzte. Immer wieder musste er gegen die Versuchung ankämpfen, den Schnelllauf zu betätigen. Er musste sich in Geduld üben, auch wenn es ihm schwerfiel. Andernfalls lief er Gefahr, möglicherweise ein wichtiges Detail zu übersehen.
»Nun mach schon«, flüsterte er dem Monitor zu. »So lange kann es doch nicht dauern, um vier Kerzen anzuzünden. «
Endlich kam sie wieder aus der Kapelle und ging nun den Seitengang entlang.
»O nein!«
Thanner biss sich auf die Unterlippe. Durch das Deckenlicht lag das Gesicht der Frau im Schatten ihres Kopftuchs. Auch die Zeitlupenfunktion und das Heranzoomen des Bildes halfen nicht. Mehr als ihr Kinn war nicht zu erkennen. Kein besonders markantes Kinn und erst recht kein vertrautes. Oder doch?
»Komm schon«, zischte Thanner. »Nur ein bisschen mehr Licht, nur ein ganz kleines bisschen mehr Licht!«
Als hätte die Kamera sein Flehen gehört, zeigte sie ihm keine Sekunde später das Gesicht der Frau. Reflexartig drückte Thanner die Pausentaste und glaubte seinen Augen nicht zu trauen.
»Das … aber das …«, stammelte er und schüttelte den Kopf.
Durch das starke Zoom war das Gesicht, das nun fast den gesamten Monitor füllte, nur undeutlich zu erkennen.
Aber das grobkörnige Bild war dennoch scharf genug, um einen Irrtum auszuschließen.
Noch immer kopfschüttelnd betrachtete Felix Thanner sein wohl treuestes Gemeindemitglied, die einundachtzigjährige Antonia Schiller. Vor kurzem noch hatte sie ihm den Diebstahl von falschem Kaviar gebeichtet, und so wie Thanner sie einschätzte, waren die vier Kerzen – zuzüglich ihrer Gebete und Rosenkränze – ihre Reuegabe gewesen. Er wäre jede Wette eingegangen, dass sie sich die Kerzen
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